Aus aktuellem Anlass

Aus aktuellem Anlass

Reflexionen auf dem Sonnenbalkon

 

Als nächster Bericht für meinen Blog war ein anderer STANDPUNKT vorgesehen: „Die Sprachpanschenden“. Er thematisiert genderkorrekte Sprachschöpfungen, liegt nun fix und fertig abgespeichert auf meiner Festplatte und harrt der Nach-Corona-Zeit, wenn die Genderaktivsten sehr bald wieder ihre penetrante Stimme erheben werden. Der danach folgende Blogbeitrag sollte sich – passend zum frühen Sommer – mit dem immateriellen Weltkulturerbe der ostfriesischen Teezeremonie beschäftigen, zusammen mit handfesten Tipps, wo man diese noch stilecht zelebrieren kann.

„Die Sprachpanschenden“, ein seit längerem vorbereitetes Projekt, habe ich noch in der Vor-Corona-Zeit geschrieben. Es sollte um die Monatswende Februar/März freigeschaltet werden. Da hatte Corona aber bereits rasant Fahrt aufgenommen und die Ereignisse begannen, sich stündlich zu überschlagen. In dieser auch im übertragenen Sinne fiebrigen Zeit schien mir das Räsonnieren über Gendercorrectness absurd. Einfach fehl am Platz. Unwichtig und albern. Die ostfriesische Teezeremonie kommt sowieso erst später in Frage, da die Reisebeschränkungen eine Recherche vor Ort zur Zeit ausschließen. Sie wäre im Übrigen als aktueller Beitrag ebenso unpassend, wenn auch aus anderen Gründen.

Die „Reflexionen“ wären also normalerweise garnicht entstanden. Ich habe sie auch nicht geschrieben, weil ich meeroere wil met mijn vinger in de pap (= meinen Corona-Senf dazugeben will), wie mein holländischer Freund Jan in der ihm eigenen drastischen Art zu sagen pflegte. Der Bericht ist entstanden, um meinem jungen, noch unflüggen Blog eine Brücke in die hoffentlich bald wieder normale Zeit zu bauen.


Ich wohne in einem Walddorf in einem Talkessel des Pfälzer Waldes unweit der Deutschen Weinstraße. Es hat etwa 360 Einwohner. Die Dorfbewohner sind größtenteils Eigenheimbesitzer, teils in dritter, vierter oder fünfter Generation, und berufsmäßig Pendler. Sie gehören der mittleren Mittelschicht an, mit Ausschlägen nach oben und unten. Es gibt hier keine Obdachlosen, aber auch keinen Porsche. Da es sich bei unserem Ort im Wesentlichen um eine Handvoll reiner Wohnstraßen handelt, gibt es hier auch keine Schule, keine Kita, keinen Laden, keinen Arzt – also so gut wie keinen Verkehr. Eine Gastwirtschaft gab es mal, aber sie hat schon lange dichtgemacht. Die Kirche wird zu besonderen Anlässen aufgeschlossen und genutzt. Das schnelle Internet macht einen großen Bogen um unseren Talkessel und der ÖPNV ist so erbärmlich, dass man ohne Auto hier nicht vernünftig leben kann. Jedoch leiden wir weder an Stickoxiden und Feinstaub noch an Lärm- und Lichtverschmutzung, und auf dem Hang hinter meiner Wohnung grasen frühmorgens die Rehe. Warum ich das erzähle?

Weil Stille und leere Straßen hier normal sind. Weil das Leben hier in derselben unaufgeregten Weise abläuft wie immer. Und weil der Kontrast zu der zwölf Kilometer entfernten Kreisstadt deshalb umso krasser wirkt. Dort ist die Stille eine ungemütliche Leere, nur gestört durch eine Person hie und da, die mit hängenden Schultern vor sich hinläuft. Auch wenn die maximal erlaubten zwei Personen unterwegs sind, ist deren Gespräch meist heruntergedimmt. Eine Leere, erstarrt in Isolation, Einsamkeit und Widerstandslosigkeit.


Von dem wunderbaren Maler Paul Klee stammt der Satz: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar.“ Und es gibt keinen Künstler, der die aktuelle Corona-Atmosphäre in seinen Bildern so erschreckend genau sichtbar macht wie der amerikanische Maler Edward Hopper vor hundert Jahren.

Hopper lebte von 1882-1967. Er arbeitete zunächst als Werbeillustrator, später dann auch als Maler. Seinen Stil, als „Amerikanischer Realismus“ kategorisiert, entwickelte er ab den späten zwanziger Jahren. Wer Hoppers Bilder betrachtet, kommt nicht umhin, an das Phänomen des „absoluten Sehens“ – analog dem „absoluten Gehör“ – zu glauben. Er malte Straßen mit sonntäglich geschlossenen Ladenzeilen, von Sonnenlicht übergossen und detailgenau bis zu den abgestuften Fenstersimsen; prächtige, großbürgerliche, weiße Villen mit Erkern, Gauben und frischgrün funkelndem Rasen; oder das Abteil eines Überlandbusses mit gutgekleideten Mittelstandsreisenden in bequemen Polstersesseln. Sein Sujet war nicht das materielle Elend. Er malte eine wohlversorgte Welt, der es materiell an nichts fehlt. Was er mithilfe seines zweiten, absoluten Auges sichtbar macht und was den Betrachter seiner Bilder wie ein kaltes Rieseln anspringt, ist die manchmal bis zur Unerträglichkeit dichte Atmosphäre von Isolation und Einsamkeit (der amerikanischen Großstadt), mit Zugaben von Verstörung und Melancholie. Zwei Beispiele: Die Bilder „Sunday“, gemalt 1926, und „Coach Car“ von 1965.

Kein Wunder übrigens, dass einer der Großen des Hollywoodkinos bei Edward Hopper Anleihen machte – Alfred Hitchcock. Wie kein Zweiter verstand er, das dem normalen Leben untergelagerte Unbehaglich-Beklemmende zu inszenieren. Hoppers Bild „House by the Railroad“ (1925) diente Hitchcock in seinem Film „Psycho“ als Vorlage für das einsam auf einem Hügel gelegene Haus des psychopathischen Mörders Norman Bates. Den Grusel und die Schockmomente hat der Großmeister allerdings selbst hineinkomponiert in seinen Blockbuster.


Ganz so idyllisch wie am Anfang beschrieben ist es in meinem Wohndorf doch nicht.  Rundfunk, Fernsehen und Internet geben dem Coronathema keine Ruhe, ununterbrochen informieren sie, beschwören, mahnen, drohen, reden gut zu, schüren Angst, appellieren, machen Hoffnung und senden staatstragend salbungsvolle Worte durch den Äther ebenso wie Zahlen und Fakten. Wie werden die Geschichtswissenschaftler im Jahr 2100 – falls die Erde wegen des Klimawandels dann überhaupt noch bewohnbar ist – die Ereignisse des dann weit zurückliegenden Jahres 2020 einordnen? Als „Jahrhundertkrise“? Als ein „Problem historischer Größe“? Als „dunkle Stunde der Menschheit“? Oder als Viruspandemie im ersten Viertel des Jahrhunderts, die bestenfalls wie die Spanische Grippe nur noch für die Medizinhistoriker interessant ist?

Die Lehren, die in der Nach-Corona-Zeit gezogen und umgesetzt werden (müssen), beginnen bereits zu sprießen. Welche Folgen sie haben werden, langfristig, in den kommenden Jahrzehnten und Jahrhunderten, bleibt spekulativ. Es ist wohl davon auszugehen, dass – wie schon immer in der Menschheitsgeschichte – richtige und auch falsche Lehren gezogen und umgesetzt werden. Dass Gutes, für die Menschheit Zielführendes entsteht und ebenso neue Abgründe und Schlünde voller Gefahren und Zerstörung. Beides gehört zusammen, und meistens findet man in ein- und demselben Phänomen Facetten sowohl des Positiven wie des Negativen. Und aus der Sicht der 2100er mag das heutige Positive als negativ erscheinen, und umgekehrt.


Vielerlei solche Gedanken gehen mir durch den Kopf, während ich auf meinem Balkon müßig „abhänge“, so wie der junge Mann auf dem Headerbild. An der Hauswand direkt über meiner Balkonliege hängt ein kleines Insektenhotel, das ich vor Jahren in einem Bioladen gekauft habe. Es besteht aus einer dicken Baumscheibe mit eingebohrten, unterschiedlich großen Löchern. Um die Brutplätze mit den größten Zugängen streiten sich jedes Frühjahr brummende Flugkünstler, gedrungen und dunkelhaarig wie eine Hummel, aber nicht größer als eine Biene. Solitärbienen, nehme ich an. Ihre Luftkämpfe sind aerobatische Meisterwerke von höchster Eleganz. Jedes Frühjahr wird mir dieses Schauspiel geschenkt. Und wie jedes stets wiederkehrende Ritual verleiht es Beständigkeit und Sicherheit – etwas, was in der  Coronawelt durcheinandergeraten ist.

Anstatt zu fragen, ob digitale Nähe physische Nähe ersetzen kann, ob nun endlich die Solidarität der Bürger ihren Durchbruch erlebt, ob die Eingriffe in die Grundrechte auch wirklich restlos zurückgenommen werden, ob dies, ob das… Anstatt zu spekulieren – wie wäre es, sich in dem gegenwärtigen Chaos auf das zu fokussieren, was bleibt, was schon immer bestand, unabhängig von Zeitalter, Gesellschaftssystem, Kontinent, Kultur und Corona? Zum Beispiel, ganz einfach, die Naturgesetze. Luft hat Gewicht, sonst würden wir den Wind nicht spüren. Die Flüsse strömen entsprechend dem Gravitationsgesetz nach unten, dem Meer zu. Kein Parlament der Welt kann diese Gesetze ändern, weder mit einfacher noch mit Zweidrittelmehrheit.

Die Naturgesetze entziehen sich nicht nur dem Menschen, sie brauchen ihn überhaupt nicht. Interessanter ist allerdings, ob etwas existiert, was dem menschlichen Wesen Sicherheit und Glück schenkt – unabhängig von Ausnahmezuständen, unsicheren Zukünften und naturgegebenen Gesetzmäßigkeiten. Etwas Existenzielles, was vorhanden ist, immer und in vielerlei Form, wenn auch nur in seltenen Augenblicken abrufbar. Auch da bin ich fündig geworden, unerwarteterweise bei einem Ethnographen.


1955 schrieb der französische Forscher Claude Lévi-Strauss den Bericht „Tristes Tropiques“ („Traurige Tropen“). Der vielgereiste Ethnograph sammelte, bewertete und verglich, teils unter abenteuerlichen und gefährlichen Strapazen, die Lebensbedingungen und Kulturen nicht-zivilisierter (hier insbesondere der brasilianischen Indianer) mit denen der sogenannten zivilisierten Menschen, zu denen er ja selbst gehörte. Nach seinen Erkenntnissen ähneln sich die Kulturen der damals noch „primitiven“ Indios und die der „zivilisierten“ Menschheit gerade in ihren fundamentalen Unterschieden. Wer will, kann hierzu einiges in Lévi-Strauss‘ Essaysammlung „Wir sind alle Kannibalen“ nachlesen, erschienen im Suhrkamp Verlag.

Um  von dort den Bogen ins Corona-Jetzt zu schlagen und zu dem, was uns den Pfad zu Sicherheit (ich meine nicht die materielle), Glück, innerer Ruhe und Freiheit weist: Wenn Sozialstrukturen, kulturelle Riten und Ordnungsregeln per se existieren und nur je nach dem Blickwinkel der jeweiligen menschlichen Gesellschaft ihre vernünftige, schützenswerte, grausige, unverständliche, brutale oder fremde Ausprägung entwickelt haben, dann ist die Gattung Mensch auch fähig, wenn sie sich darauf einlässt, in seltenen Augenblicken das existentielle „Wesen dessen zu erfassen, was sie war und noch immer ist“. Lévi-Strauss bezeichnet dies als „Gnade“ und „lebenswichtige Chance“ und er beschreibt es mit poetischen Worten. Es sind auch die letzten Sätze der „Traurigen Tropen“. „Das Wesen (des Menschseins) zu erfassen“, schreibt der Intellektuelle voller Sehnsucht, „… diesseits des Denkens und jenseits der Gesellschaft: zum Beispiel bei der Betrachtung eines Minerals, das schöner ist als alle unsere Werke; im Duft einer Lilie, der weiser ist als unsere Bücher; oder in dem Blick – schwer von Geduld, Heiterkeit und gegenseitigem Verzeihen -, den ein unwillkürliches Einverständnis zuweilen auszutauschen gestattet mit einer Katze.“

 

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