Mia, Kasia, Harriet und Martha

Mia, Kasia, Harriet und Martha

Leben am Bodensee

 

Das Titelbild dieses Berichts zeigt „Hermann Hesse und sein 1. Haus“. Das ist richtig, aber unvollständig. Es war auch Mia Hesses erstes Haus. Tatsächlich war sie es, die auf Haussuche gegangen war, die das verwitterte Bauernhaus in Gaienhofen am Bodensee gefunden und – mit Erfolg – darum gekämpft hatte, es dem uneinsichtigen Eigentümer zur Miete abzutrotzen. Hermann Hesse sah das Haus zum ersten Mal, als er einzog.

Das Gebäude ist heute ein saniertes, aufgehübschtes, blumengeschmücktes Museum. Die Beschriftung auf der Hinweistafel daneben ist eine der vielen, kleinen, unwichtigen, aber bezeichnenden Gedankenlosigkeiten, mit der die Ehefrauen berühmter Männer als vernachlässigbar behandelt werden. Hatten sie keine Lebensentwürfe? Haben sie diese mit der Eheschließung aufgegeben, um ihrem Mann den Rücken freizuhalten, um ihm sein Leben „auszupolstern“ – wie Harriet Straub es nennt, eine der Protagonistinnen meines Frauenquartetts.

Mia, Kasia, Harriet und Martha waren mit Künstlern – weltbekannten, bekannten, kaum bekannten – verheiratet und lebten im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert. Alle hatte es zufällig an den Bodensee verschlagen. Alle vier hatten ursprünglich die Ambition, mehr zu sein als nur „die Frau an der Seite von …“ und ihre berufliche Ausbildung entsprechend geplant und absolviert. Gingen ihre Pläne in Erfüllung, und wenn ja, welchen Preis zahlten sie dafür? Alle vier mussten nach Scheidung oder Tod des Ehemannes und Ernährers irgendwie zurechtkommen. Wie gelang ihnen das? Auf welche Hilfen und Instrumente konnten sie zurückgreifen in einer Zeit, als es noch kein Hartz IV, keine Grundsicherung, keine staatliche Aufstockung und keine verpflichtende Krankenversicherung gab?

Hermann steigt auf und Mia gehört ihm an

Als Hermann und Mia Hesse sich kennenlernten, führte Mia zusammen mit ihrer Schwester ein Fotoatelier in Basel, spezialisiert auf moderne Porträts. Sie stammte aus der angesehenen und wohlhabenden Familie Bernouilli und hatte in Berlin eine Ausbildung zur Fotografin absolviert. Die beiden Schwestern luden öfters zu gesellschaftlichen „Jours“ in ihre Atelierräume ein. Daran nahm gelegentlich auch ein junger Buchhandelsgehilfe namens Hermann Hesse teil, der bereits ein paar Gedichte und Essays veröffentlicht hatte, an einem Roman schrieb und der Bernouilli-Tochter außerordentlich gut gefiel.

Hesse Museum Gaienhofen

1904 zogen die beiden Jungverheirateten nach Gaienhofen, dort wo der Bodensee sich zum Untersee verengt. Sie waren sich einig, ein naturnahes, gesundes und einfaches Leben auf dem Land zu führen. Drei Jahre lebten die Aussteiger dort, holten ihr Wasser aus dem Brunnen und bekamen ihr erstes Kind. Hesses erster Roman „Peter Camenzind“, ein Bestseller, ermöglichte der jungen Familie den Erwerb eines Grundstücks und den Bau eines eigenen Hauses („Haus am Erlenloh“), in dem es nun auch einen Wasseranschluss und eine Badewanne gab, ein Arbeitszimmer mit Blick auf den See für Hermann und sogar eine Dunkelkammer für Mia, die aber immer seltener benutzt wurde.

Hesse der Nomade

Zwei weitere Kinder wurden geboren. Hesse war nun Ehemann, Vater, Familienoberhaupt und Hausbesitzer – ein bürgerliches Rollenbild, dessen Verpflichtungen und Einschränkungen er sich immer öfter durch Wander- und Lesereisen, Kur- und Familienaufenthalte und Verlegerbesuche, notfalls auch durch Kopf- und Augenschmerzen, entzog. Mia zeigte Verständnis und schulterte klaglos Haushalt und Kindererziehung, und während seiner häufigen Abwesenheiten auch die Gartenpflege und die zunehmende Korrespondenz des jungen Autors, dessen Stern nach dem zweiten Roman „Unterm Rad“, ebenfalls ein Verkaufserfolg, am Literatenhimmel aufzugehen begann. Parallel dazu verlief die Ehe abwärts.

Hesses Schatten fällt auf die Mauritiuskapelle – und auf die gesamte Bodenseeregion

Je einfühlsamer Mia auf ihren Mann und seine Befindlichkeiten einging, umso heftiger rüttelte er an den Stäben seines bürgerlichen Käfigs. Seine Antwort auf eine neue, bequeme „Auspolsterung“ seines Lebens war stets eine Abreise. Dieses Muster behielt er auch während seiner beiden folgenden Ehen und bis ins hohe Alter bei. Vielleicht fürchtete er, in der Bürgerlichkeit den Zugang zur Dichtung zu verlieren, die Dichtung gar als verdächtig zu empfinden.

Eskalation und Bruch

Die beiden gaben ihrer Ehe noch eine Chance und zogen mit ihren Kindern in die Nähe von Bern, näher zu städtischer Kultur und näher zu Mias Familie, die sie vermisste. Aber der Ortswechsel brachte keine Änderung. Sieben Jahre quälten sie sich noch durch eine Art Gemeinsamkeit  in Bern, während der Hesse klargeworden sein muss, dass eine Entscheidung zwischen seiner Berufung zum Dichter und einer bürgerlichen Existenz unausweichlich war. Auch die überforderte Mia, inzwischen fünfzig Jahre alt,  muss es geahnt haben.

Sie erlitt einen nervlichen Zusammenbruch, der ihre Einweisung in eine Heilanstalt nötig machte. Hesse fand sich mit seinen drei Söhnen und einer Haushaltshilfe allein in dem Berner Haushalt und handelte. In einer aus heutiger Sicht brutalen Manier zog er die Reißleine: Die Kinder brachte er bei Freunden und Verwandten unter, sich selbst setzte er ins Tessin ab, das er von früheren Wanderreisen her kannte. Jegliche Form eines weiteren Zusammenlebens mit Mia schloss er aus.

Dieses Jahr 1919 war, lange vor der offiziellen Scheidung, die erst 1923 stattfand, die wichtigste Zäsur im Leben von Hermann und Mia Hesse. Für Hermann leitete sie eine hochkreative Phase ein. Mia war nun auf sich allein gestellt.

Zu dieser Zeit, kurz nach dem Ersten Weltkrieg und in den zwanziger Jahren, erlebte die Malerin Kasia von Szadurska, verheiratete Ehinger, ihre künstlerisch produktivste und privat glücklichste Phase. Auch Kasias Nachbarin Harriet Straub, Ärztin und Schriftstellerin, hatte da an der Seite ihres Mannes Fritz Mauthner bereits ihre endgültige Bestimmung als Literatin und Mitarbeiterin Mauthners bei dessen philosophisch-literarischer Arbeit gefunden. Die Ehingers und die Mauthners waren befreundet. Beide wohnten in Meersburg, nicht weit voneinander entfernt.

Großstadt-Bohémienne Kasia trifft Otto aus Meersburg

 Kasia von Szadurska, geboren in Moskau als uneheliche Tochter eines polnischen Adeligen und einer „preußischen Untertanin“, wuchs bei Adoptiveltern in Dresden auf. Bereits als Siebzehnjährige begann sie 1903 ihre künstlerische Ausbildung in Düsseldorf. Spätere Stationen waren Hamburg, Berlin und München. Ihr Lebenslauf ist wie auch der von Harriet Straub noch voller weißer, unerforschter Flecken.

Villa Ödenstein: Kasias Domizil, als sie zur Meersburger Oberschicht gehörte

Kasia und Otto Ehinger lernten sich in München kennen. Ehinger, Sohn eines begüterten Meersburger Brauereibesitzers, war bereits ausgebildeter Jurist, hatte aber Gefallen an der Münchner Bohème gefunden, publizierte in Zeitschriften und arbeitete als Reisejournalist. Kasia und Otto heirateten 1910 und, wäre es nach dem Willen der beiden gegangen, sie hätten als Künstlerpaar weiterhin die Großstadtszene bereichert. Der Erste Weltkrieg machte ihnen einen Strich durch diese Rechnung. Um sich vom Wehrdienst freistellen zu lassen, kehrte Otto Ehinger nach Meersburg zurück und trat in die Leitung der väterlichen Brauerei ein. Die Ehe mit der Künstlerin hielt er geheim.

Kasia blieb in der Großstadt. Erst 1915 übersiedelte sie an den Bodensee und richtete sich zunächst in einem Gartenhäuschen in Konstanz (nicht in Meersburg!) ein, nahe dem Pulverturm. Sie knüpfte Beziehungen zur lokalen Szene, war Mitbegründerin der Künstlervereinigung „Breidablik“ und machte sich einen Namen als Graphikerin, Illustratorin, Buchgestalterin und Porträtistin. Die lokale Presse nahm sie als neu zugezogene, unabhängige Künstlerin wahr – was sie im Prinzip auch war. Otto besuchte sie alle zwei Wochen wie eine heimliche Geliebte, bis die Geheimniskrämerei um die Ehe aufflog.

Integrationsverweigerung

Schon damals zeigte sich Kasias kompromisslose Unbedingtheit als Künstlerin, der sie alle ihre anderen Rollen – als Mutter, als Ehefrau, als Gattin eines Mitglieds der Meersburger Oberschicht – unterordnete. Sie passte sich nicht an. Zwar zog sie 1922 zu ihrem Mann nach Meersburg in die Villa Ödenstein, die sie umbauen und um einen Erker, Terrassen und ein Atelier erweitern ließ. Von dort konnte sie bis zum Meersburger Hafen hinunterschauen, dessen Ausbau zum Fährhafen sie in vielen Zeichnungen und Lithografien festhielt. Heute ist die Villa Ödenstein eine Pension.

Kasias Naturell erlaubte ihr nicht, sich anzupassen. Und die starre Gesellschaftsordnung der Provinz duldete neben dem konservativen Tunnelblick nicht das klitzekleinste liberale Schielen ihrer Bürger auf andere  Lebensformen. Die Spannung löste sich nicht auf. Frau Ehinger blieb der großstädtische Fremdling. Man beäugte die auffällige, mondäne Frau mit dem ausländischen Akzent mit misstrauischer Distanz. Als Kasia für ihre beiden Söhne ein Kindermädchen einstellte, um Zeit und Ruhe für ihre Kunst zu haben, quittierten die braven Meersburger dies mit fassungsloser Empörung.

Die Rheingasse in Konstanz

Auch für Otto, der zwar nach wie vor schriftstellerisch tätig, inzwischen aber alleiniger Leiter der Brauerei war, muss dies eine Prüfung gewesen sein. 1934 verlegte Kasia, als Künstlerin regional und überregional erfolgreich und auf vielen Ausstellungen präsent, ihr Atelier in die Rheingasse in der Konstanzer Altstadt. Ein Jahr später wurde das Paar geschieden und Kasias bis dahin gesicherte finanzielle Existenz brach weg.

Zu dieser Zeit war auch Harriet Straub, Kasias ehemalige Meersburger Nachbarin und Freundin, in Existenznöten. Die Nazis hatten 1933 der „Frau eines Juden“ die Witwenrente gestrichen.

Katholizismus – Frauenbewegung – Medizinstudium

 Harriet Straubs Lebensweg ist noch weniger erforscht als der ihrer Freundin Kasia. Geboren als Hedwig Straub nahe Freiburg im Schwarzwald und aufgewachsen in einem kompromisslos katholischen Umfeld finden wir die junge Frau unerwarteterweise in den Gymnasialklassen der Frauenrechtlerin Helene Lange in Berlin wieder. 1890 schließt die Achtzehnjährige eine Blitzehe, der kurz darauf die Blitzscheidung folgt. Sie beginnt ein Medizinstudium in Zürich, zu einer Zeit, als Frauen bereits Medizin studieren durften, es aber in der Regel nicht taten. An der Sorbonne in Paris promoviert sie und geht anschließend als Ärztin im Auftrag der französischen Kolonialregierung in die algerische Sahara. Dort bleibt sie fast zehn Jahre.

Im „Reinigungsbad“ der Wüste

 Ihre spätere literarische Tätigkeit ist ohne den Aufenthalt in der Sahara nicht denkbar. Als Ärztin und Gelehrte war sie eine hochgeachtete Persönlichkeit unter den nomadischen Beduinen und erhielt Einblicke in deren Welt und Denkweise, die den französischen Kolonialoffizieren verschlossen blieben. Sie entwickelte eine Empathie für die Wüstenbewohner und eine Klarsicht, die ihre Identität und ihr gesamtes europäisches Gesellschafts- und Wertesystem massivst in Frage stellte. Etwa zehn Jahre später, als sie am Bodensee lebte, verarbeitete und publizierte sie diese Erfahrungen und Erkenntnisse als fulminante Abrechnung mit der europäischen (Un)Kultur.

Die Wüste schärfte Harriets Sinne. Und sie verfiel ihr emotional: „… das lebendigste, grausamste, schmeichlerischste, tobendste, bezauberndste Ungeheuer, das übermenschliche Phantasie sich vorstellen kann.“

Ihre Rückkehr nach Europa um 1900 geschah in Zusammenhang mit ihrer zweiten Ehe mit einem irischen Adeligen, die jedoch auch eine Episode blieb. Ab etwa 1906, als sie in Freiburg den Sprachphilosophen Fritz Mauthner kennenlernte, ist ihr Lebensweg detaillierter erforscht. Was sie bis dahin seit ihrer Rückkehr aus der Sahara in Deutschland, Großbritannien, Schweden und Dänemark umtrieb, bleibt noch aufzudecken.

Arbeit und Muße am See

Versteckte Künstler-Eremitage Glaserhäusle

Die Begegnung mit Fritz Mauthner brachte Stabilität in ihr Privatleben und leitete ihren Weg zur Literatin ein. Hedwig war damals 34 Jahre alt, Fritz Mauthner 57. Er hatte sich nach einer erfolgreichen Karriere als Feuilletonist und Theaterkritiker in Berlin aus der täglichen Journalistenfron nach Freiburg zurückgezogen, um sich seinen sprachphilosophischen Studien zu widmen. Die berufliche Mitarbeit Hedwig Straubs mündete sehr schnell in ein gemeinsames Leben und ab 1910 war Hedwig Frau Mauthner. Ein Jahr zuvor hatte Fritz in Meersburg das Glaserhäusle erworben, das bis zum Lebensende der beiden ihr geliebtes Domizil blieb.

Das Glaserhäusle, am äußersten westlichen Ende von Meersburg auf einem Steilhang über dem See gelegen, hatte schon Annette von Droste-Hülshoff im 19. Jahrhundert poetisch bedichtet, als es noch eine Ausflugswirtschaft war. Dem „Häusle“ vorgelagert war eine Scheune, die Fritz als Arbeitszimmer diente. Die heutigen Eigentümer haben einen identischen Anbau hinzugefügt, eine Zwillings-Scheune, die das Wohnhaus nun endgültig den Blicken von allen Seiten entzieht. Abseits gelegen und nur zu finden, wenn man danach sucht, ist das Glaserhäusle heute eine Art Eremitage, die sich – jedenfalls äußerlich – die profane Alltagswelt vom Leib hält.

Die Zwillings-Scheunen. Hinten links ein Zipfel vom Glaserhäusle im Herbstlaubschmuck.

Bis zum Tod Fritz Mauthners 1923 erlebten die (Ehe)Partner im Glaserhäusle eine künstlerisch produktive Phase, die auch privat offenbar bereichernd war: „Ich liege in der Hängematte im schattigen hundertjährigen Laubengang …“ beginnt die Frau, die sich als Autorin Harriet Straub nannte, den zweiten Absatz ihrer Kurzgeschichte „Heiße Sonne“. Sie hatte die Muße, zu sinnieren und dem Wellenschlag des Sees zu lauschen. Fritz beantragte den Bau eines Badehäuschens unten am Ufer. Sie empfingen und bewirteten Besuch. Das Leben war gut.

Harriet Straub taucht in literarischen Beiträgen in der Regel nur als Hedwig Mauthner auf, als Frau des seinerzeit berühmten Sprachphilosophen. Man gesteht ihr mehr oder weniger Einfluss auf das literarische Schaffen ihres Mannes zu. Im Prinzip hat sie sich jedoch, wie es nun mal so üblich ist, in die zweite Reihe hinter ihn zu stellen, als seine Mitarbeiterin – ein beschönigender Ausdruck für Assistentin -, im besten Fall als seine inspirierende Muse. Ihre eigenen literarischen Schöpfungen, geboren aus den Lehren Helene Langes und dem „Reinigungsbad“ der Wüste, und nicht zuletzt ihr Künstlername, mit dem sie sich von ihrem zivilen Ehenamen absetzt, lassen jedoch die Vermutung zu, dass es sich bei Fritz und Harriet um ein kongeniales Partnerpaar handelte, die es verdienen, unter diesem Ansatz und jeder für sich thematisiert zu werden.

Ein kongeniales Paar

 Straubs Erzählungen und Essays haben nichts, aber auch garnichts, mit Mauthners Schaffen zu tun. Kritisch und leidenschaftlich räumt sie mit dem Überlegenheitsgehabe der Europäer gegenüber den Menschen der beduinischen „Unkultur“ auf, hinterfragt die moderne, westliche Medizin und rechnet gnadenlos mit den Implikationen des „verchristeten“ Europa ab. In ihrem Essay „Frauen-Emanzipation“ fällt die Helene-Lange-Schülerin voller Sarkasmus und kämpferischer Empörung über die gängige Geschlechterverteilung zwischen Mann und Frau, Über- und Unterlegenheit her. Sie schont schon garnicht die hingebungsvollen, weiblichen „Stützen männlicher Bequemlichkeit“. Sie arbeitet sich an dem Begriff Liebe ab … all dies Welten entfernt von den theoretischen, sprachkritischen Analysen Fritz Mauthners.

Städtische Wessenberg-Galerie Konstanz, gegenüber dem Münster

Es gibt bisher kein Buch über Harriet Straub, obwohl diese vielschichtige Frau mit all ihren Wandlungen es verdient, aus dem Schatten ihres Mannes herausgeholt und ins Licht gestellt zu werden – umso mehr, als sich im Jahr 2020 ihr 75. Todestag jährt. Mia Hesse teilt sich mit Ruth Wenger und Ninon Dolbin die Seiten in dem Buch „Hesses Frauen“. 2013 erschien anlässlich ihres 50. Todestages die Publikation „Lichtwerke“, die sie als Fotografin thematisiert. Zu Kasia von Szadurska hat die Städtische Wessenberg-Galerie Konstanz anlässlich einer Ausstellung 2009/10 einen informativen und ausführlichen Katalog herausgebracht, der noch erhältlich ist.

Im Strudel der Zwanziger Jahre: Otto und Martha Dix

 Martha Dix, die letzte meines Frauenquartetts, fällt aus dem Rahmen. Ob sich die verwöhnte, wohlhabende Tochter aus großbürgerlichem und großstädtischem Hause überhaupt Gedanken um eine Berufslaufbahn machte, ist wahrscheinlich deshalb schon fraglich, weil sie es nicht nötig hatte. Sie erhielt eine Pianistenausbildung, war gebildet, belesen und literarisch versiert, sprach mehrere Sprachen, eine selbstbewusste, moderne Frau – sonst hätte sie sich nicht über ihre Standesschranken hinweggesetzt und einen aus dem Arbeitermilieu stammenden Künstler geheiratet, dessen Durchbruch noch in der Zukunft lag.

Als sie Otto Dix kennenlernte, war sie sechsundzwanzig, lebte in Düsseldorf und war mit dem Arzt und Kunstsammler Dr. Koch verheiratet. Otto und Martha heirateten 1926, die Scheidung von Dr. Koch, der später Marthas Schwester ehelichte, verlief problemlos mit dessen Einverständnis. In den folgenden Jahren, bis 1933, erfolgte der kometenhafte Aufstieg von Otto Dix zum berüchtigtsten, und einem der berühmtesten, Maler Deutschlands, dessen Bilder seinem Galeristen Nierendorf zu Höchstpreisen aus den Händen gerissen wurden. Dix malte mit beißender Realität das Inferno des Ersten Weltkriegs, den er als Maschinengewehrschütze an der Westfront in vorderster Linie miterlebt hatte, er malte das verzweifelte Elend der Nachkriegszeit, die verstümmelten Kriegskrüppel, den Jungen, der an der Straßenecke eine Schachtel Streichhölzer zum Verkauf anbietet, die Großstadthuren, die abgetakelten ebenso wie die pelz- und juwelenbehängten Gespielinnen der Kriegsgewinnler und Schieber. Seine skandalösen, weiblichen Akte brachten ihm mehr als einmal ein Verfahren ein.

In diesen rauschhaften, atemlosen Jahren residierte das Ehepaar standesgemäß in Düsseldorf, Berlin und später in Dresden, wo Otto eine Professur an der Kunstakademie innehatte. Drei Kinder wurden geboren. Nach welchen Sternen sollte man noch greifen?

 Gleich im ersten Jahr der Machtergreifung, 1933, flog er aus der Akademie. Er erhielt Ausstellungsverbot und war als „entarteter Künstler“ den Nazischikanen ausgesetzt. Bereits im Herbst 1933 flüchtete er mit seiner Familie in das abgeschiedene Randegg im Hegau westlich des Bodensees. Dort fanden sie Unterschlupf in den schwer beheizbaren Räumen eines alten Schlosses, dessen Besitzer Marthas geschiedener Mann Dr. Koch war. Die finanziellen Einkünfte trockneten zu einem Rinnsal aus.

In der Provinz

Museum Haus Dix

Drei Jahre später besserte sich zumindest die materielle Lage. Martha war nach dem Tode ihres Vaters eine substanzielle Erbschaft zugefallen  und 1936 konnte man die eigene, neugebaute Villa auf einem Hanggrundstück in Hemmenhofen am Bodensee beziehen. Das heutige Museum Haus Dix ist ein großzügiges, komfortables Wohnhaus mit frontbreitem Balkon, Terrasse mit Seeblick, Atelier für Otto, Musikzimmer für Martha, Kinderzimmern im obersten Stock und repräsentativem Entree. Durch die entspannte, finanzielle Lage waren auch Reisen ins Ausland wieder möglich.

Während sich Martha in die ländliche Hemmenhofen-Idylle offenbar relativ leicht einlebte, haderte Otto mit der lieblichen Bodenseenatur. Abgeschnitten von den Impulsen der Großstadt, fand er künstlerisch schwierig Zugang zur Landschaft. Auch muss ihm klargewesen sein, dass er im Haus seiner Frau lebte und ohne ihr Geld weit schlechter dastehen würde. Materiell kam die Familie relativ glimpflich durch die Nazizeit. Die Lebensmittelknappheit der Kriegsjahre ging natürlich auch an ihnen nicht spurlos vorbei. Noch Jahre nach dem Krieg tauchten in den Bauern- und Fischerhäusern der Umgebung Zeichnungen von Otto Dix auf, die er in den Notjahren für einen Sack Kartoffeln, ein paar Dutzend Eier oder einen frisch aus dem See gezogenen Hecht eingetauscht hatte.

Hemmenhofens First Lady

Terrasse des Dixhauses: Fürstlicher Ausblick für eine First Lady

An seine Karriere konnte Dix nach 1945 nicht wieder anknüpfen. Seine Einkünfte blieben mäßig, trotz diverser Auszeichnungen und Ehrungen. Erst Ende der fünfziger Jahre nahm man ihn wieder als Künstler wahr und er erhielt mehrere lukrative Großaufträge. Marthas gewohnte standesgemäße Lebenshaltung hielt wieder Einzug im Hause Dix. Wie die First Lady von Hemmenhofen allerdings mit Ottos Schattenfamilie in Dresden zurechtkam, bleibt eine Frage, zu der sie sich öffentlich nie geäußert hat. Otto pendelte damals und bis zu seinem Tod regelmäßig zwischen dem Bodensee und Dresden hin und her, wo er ein privates Atelier unterhielt und sein ehemaliges Model Käthe König und die gemeinsame Tochter besuchte. 1969 starb er an einem Schlaganfall im Krankenhaus von Singen. Martha überlebte ihn um sechzehn Jahre.

Wie es mit den vier Frauen weiterging, nachdem sie geschieden beziehungsweise verwitwet waren, wie sie ihr Leben gestalteten, ihren Unterhalt sicherten (oder auch nicht), wie sie zurechtkamen, welche Hilfe ihnen zur Verfügung stand – darauf gehe ich in meinem nächsten Blogbeitrag ein.

Hesse Museum Gaienhofen
Kapellenstraße 8, 78343 Gaienhofen, Tel. 07735 440949
Öffnungszeiten in 2020: Bis 16. März: Fr + Sa 14-17 Uhr, So 10-17 Uhr; 17. März – 01. November: Di – So 10-17 Uhr.
Hermann-Hesse-Tage: 16. – 18. Oktober2020.
Mia-und-Hermann-Hesse-Haus
Hermann-Hesse-Weg 2, 78343 Gaienhofen, Tel. 07735 440653
Geschlossen bis 10. April 2020. Privathaus, geöffnet nur während der Führungen.
Das frühere Hermann-Hesse-Haus („Haus am Erlenloh“) wurde im August 2019 in Mia-und-Hermann-Hesse-Haus umbenannt.
Pension Landhaus Ödenstein
Droste-Hülshoff-Weg 25, 88709 Meersburg, Tel. 07532 6142
9 Zimmer / Doppelzimmer 108-160 €/Tag, je nach Seeblick und Balkon.
Glaserhäusle
Glaserhäusleweg 7, 88709 Meersburg
Privathaus, öffentlich nicht zugänglich. ACHTUNG: Nicht zu verwechseln mit Annette von Droste-Hülshoffs Fürstenhäusle (Museum).
Kasia von Szadurskas Atelier
Rheingasse 19, 78462 Konstanz
In dem Gebäude befindet sich heute eine Versicherung.
Städtische Wessenberg-Galerie
Wessenbergstraße 41, 78462 Konstanz, Tel. 07531 900376
Öffnungszeiten: Di – Fr 10-18 Uhr, Sa + So 10-17 Uhr, Mo geschlossen.
Veranstaltungen, Ausstellungen, Führungen.
Museum Haus Dix
Otto-Dix-Weg 6, 78343 Gaienhofen-Hemmenhofen, Tel. 07735 937160
Öffnungszeiten in 2020: 21. März – 31. Oktober Di – So 11-18 Uhr.
Öffentliche Führungen: Jeden 2. und 4. Sonntag im Monat um 14:00 und 15:30 Uhr.
Infos aktuell im Dezember 2019

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