
Zeppelins Erbe, Zeppelins Schatten
Wo würde die Bodenseeregion heute stehen,
wenn …
… wenn vor über zweihundert Jahren ein junger, verarmter, mecklenburgischer Hofadeliger seine Zukunft nicht im militärischen Dienst unter einem württembergischen Befehlshaber gesehen, sondern eine andere Laufbahn gewählt hätte?
Die Soldatenzeit des jungen Grafen dauerte zwölf Jahre. Danach trat er in den Hofdienst des Königs von Württemberg, machte dort Karriere, stieg bis zum Außenminister auf. Zwei Generationen später setzte sein Enkel eine langgehegte Idee in ein Projekt um, das Tourismus und Industrie am Bodensee noch heute prägt. Der damals aufkommende Fremdenverkehr und die landschaftlich reizvolle und klimatisch milde Lage hätten die Region ohnehin zum Touristenziel aufblühen lassen. Ob sich die parallel zum Tourismus entwickelnde Rüstungsindustrie ohne das Start-up-Unternehmen des Nachkommen des mecklenburgischen Auswanderers zu dem heutigen Cluster an militärischer Hochtechnologie hätte auswachsen können, bleibt spekulativ. Tatsache ist jedoch, dass jener Enkel, Luftfahrtpionier Ferdinand von Zeppelin, sich noch heute im 21. Jahrhundert als Urahn der heutigen, am Bodensee angesiedelten Kriegswaffenschmieden beschuldigen und am Zeug flicken lassen muss.
Pro und Kontra Zeppelin

Ist Zeppelin der „Held der Lüfte“, der dem Bodenseetourismus mit seinem Luftschiff zu einem unvergleichlichen Alleinstellungsmerkmal verhalf? Oder ist er einer der Dunkelmänner hinter einer Entwicklung, die Tausende von Kriegstoten zu verantworten hat? Zu einer Zeit, als der technische Fortschritt auch die Fliegerei vorantrieb, verstand Zeppelin seine Erfindung eines durch die Luft fahrenden Schiffes als einen Beitrag zum zivilen und militärischen Personen- und Lastentransport über weite Strecken. Weder wollte er den Tourismus mit fliegenden Aussichtsgondeln promoten noch Kriegswaffen konstruieren. Als am 2. Juli 1900 Luftschiff LZ1 erfolgreich seinen Jungfernflug absolvierte, hieß der Tourismus noch Sommerfrische. Die nach heutigem Maßstab genügsamen Urlauber dachten nicht im Traum an einen Flugausflug, sondern blieben schön am Boden. Und der Erste Weltkrieg mit einem Zeppelin-Bombentransporter war noch vierzehn Jahre entfernt.
Die Involvierung der Zeppelins in die Tourismus- und Rüstungsindustrie war alles andere als vorgezeichnet. Fritz von Zeppelin, der Sohn des Migranten aus Mecklenburg und Vater des zukünftigen Luftschiffers, hatte eine reiche Schweizer Unternehmertochter geheiratet und residierte mit ihr und den drei Kindern Eugenie, Ferdinand und Eberhard im Landschlösschen Girsberg auf einem Hügel hoch über Konstanz. Girsberg war ein Weihnachtsgeschenk von Fritz‘ Schwiegervater David Macaire, Bankier und Inhaber einer Baumwollfärberei in Konstanz. Sie lieferte handbedruckte Baumwolltücher nach Afrika und in die Neue Welt nach Amerika. Um die Jahrhundertwende wurde die Manufaktur von Ferdinands Bruder Eberhard zum Inselhotel aus- und umgebaut und empfängt unter diesem Namen – allerdings unter einem neuen Eigentümer – bis heute Gäste der oberen Preisklassen.
Kindheits- und Jugendidylle vor Neunzehnhundert
Vater Fritz von Zeppelin bewirtschaftete mit seinen Dienstboten das Hofgut, ging in seiner Rolle als Landmann auf und schrieb in seiner Freizeit Gedichte. Er war ein standesbewusster Graf und gut vernetzt innerhalb des regionalen Adels, pflegte aber auch freundschaftliche Kontakte zu Vertretern des bürgerlich-aufklärerischen Gedankenguts. Seine drei Kinder erhielten eine adelskonforme Erziehung und erlebten auf Girsberg eine unbeschwerte Kindheit und Jugend. Der frühe Tod von Mutter Amélie 1852 änderte alles. Ferdinand von Zeppelin war vierzehn Jahre alt, als seine Jugend zu Ende war. Vater Fritz zog mit seinen Kindern nach Stuttgart.
Girsberg ist ein anmutiges Landschlösschen auf der Schweizer Seite des Bodensees westlich von Kreuzlingen, der Schwesterstadt von Konstanz. Lange Jahre war es der sommerliche Treffpunkt der Familie Zeppelin, die trotz vieler Widerstände, zweier Weltkriege, drohender Insolvenzen und Grenzproblemen mit ihrem schweizerischen Auslandssitz zäh an ihrem Eigentum festhielt. Ferdinand von Zeppelins Enkelin Alexa lebte dort bis zu ihrem Tod 1997. Inzwischen ist Girsberg verkauft. Die neuen Eigentümer haben jedoch die ehemalige Scheune des Landgutes zu einem Museum und Kulturzentrum ausgebaut und veranstalten drei- bis viermal im Jahr einen kulturellen Event. Das Museum, eigentlich ein Puppenmuseum, enthält auch Mobiliar und persönliche Gegenstände der Zeppelin-Familie.

Von jeder Art von bürgerlichem Unternehmertum schienen die Zeppelins durch Welten getrennt zu sein. Ein Adeliger war weder Geschäftsmann noch Arbeiter. Die Bevölkerung der Region lebte von Landwirtschaft, Fischerei, der Lastenschifffahrt auf dem Bodensee und seit der Zeit um die Jahrhundertwende mehr und mehr auch von Badegästen und Sommerfrischlern, denen die Wandervogelbewegung sowie eine neue Naturaffinität und Körperbewusstheit den Weg bereitete.
Zeitenwende
In diese Zeit fällt der erste Vorstoß der Zeppelins in den aufkommenden Tourismus. Eberhard von Zeppelin, gerade ohne standesgemäße Tätigkeit, ließ 1878 auf Beschluss der Familie die nicht mehr rentable und deshalb stillgelegte Stoffmanufaktur in Konstanz zum Inselhotel umbauen, einer luxuriösen Absteige des Hochadels und Großbürgertums. Seine Rolle als dem Adel entstammender Hoteldirektor erwies sich als zusätzlicher Bonus. Er selbst sah das anders. „Man muss das Leben halt nehmen, wie es ist und still halten, wenn’s auch gar nicht so kommt, wie man sich’s gedacht und vorgesetzt hat“, schrieb er in einem Brief an Bruder Ferdinand. Diese Tätigkeit ist eines Grafen nicht würdig – so meinte Eberhard das wohl.
Ferdinand war zu dieser Zeit Major und seine militärische Karrierekurve zeigte nach oben. Er war Offizier und gedachte auch nichts anderes zu werden. Es war wieder ein Zufall, der alles änderte. Ferdinand von Zeppelin, der selbstbewusste württembergische Graf und Berufsoffizier, kritisierte in einer offiziellen Denkschrift das Verhalten preußischer Militärs. Die Kritik war begründet und hätte im Rahmen einer internen Analyse bearbeitet werden können. Aber die preußische Rache äußerte sich in einem höchst unfeinen Mobbing, das Zeppelin veranlasste, sein Abschiedsgesuch einzureichen. Eine Frage der Ehre!
Für kurze Zeit verlor er den Boden unter den Füßen. Von heut auf morgen arbeitslos, ohne berufliche Perspektive, 52 Jahre alt, voller Vitalität, voller Tatendrang, das Leben aktiv zu gestalten und nicht einfach vorbeiziehen zu lassen. Finanziell war er durch die Erträge seines Erbteils mütterlicherseits und durch seine Frau Bella, der reichen Alleinerbin eines baltischen Großgrundbesitzers, abgesichert. Aber sein Landgut Girsberg zu bewirtschaften wie sein Vater und sich in die ländliche Abgeschiedenheit zurückzuziehen, entsprach nicht dem Naturell des Frührentners.
Ferdinands Berufung

Etwa zwei Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Militärdienst, um 1892, scheint eine Idee, die schon Jahre in ihm brütete, Gestalt angenommen zu haben: Die Konstruktion eines lenkbaren, fliegenden Geräts. Es war die Zeit, als der uralte Menschheitstraum vom Fliegen, verkörpert in der griechischen Sage von Dädalus und Ikarus, zum Greifen nahe war. Aufbruchstimmung hing in der Luft. Merkwürdige Flugobjekte, ballonförmig, fischleibartig, manche gar an Ufos erinnernd, wurden entwickelt, getestet, verworfen. Krachten auf den Boden und hinterließen Verwundete, die dennoch nicht aufgaben.
Zeppelin, schon als Jugendlicher technikaffin, hatte auch als Offizier keine Gelegenheit ausgelassen, militärtechnisch auf dem Laufenden zu bleiben. Als junger Leutnant war er während eines US-Aufenthalts in einem militärischen Ballon über die Schlachtfelder des amerikanischen Bürgerkriegs aufgestiegen. Bereits damals erkannte er das Potential und die Bedeutung der Höhenaufklärung. Dreißig Jahre später griff er im Zuge seiner beruflichen Neuorientierung diese Idee wieder auf: Das Luftschiff als Ferntransporter und Aufklärer: Es wurde für den Rest seines Lebens seine Berufung.
Starrsinnig und unermüdlich, trotz aller Widerstände und technischer Rückschläge, zog er sein Vorhaben durch, das viele seiner Zeitgenossen als unrealistisches Luftschloss abtaten. Nur dieses eine Ziel vor Augen, investierte er seine Energie, sein Vermögen (und das seiner Frau) in das Projekt, nutzte seine Verbindungen zum württembergischen Königshaus, sammelte Sponsorengelder und stellte Ingenieure ein. Was ihn immer wieder motivierte und anfeuerte, kann vermutlich nie punktgenau herausgearbeitet werden und hängt davon ab, wie man die Dinge gewichtet. War es die Erkenntnis, endlich auf seine wahre Berufung gestoßen zu sein? War es die späte Midlife Crisis eines Machers, der unerwartet vor dem beruflichen Nichts stand? Oder war es die durch die unschöne Demission gekränkte Seele, die nach Kompensation schrie?
Die Zweifler und Widersacher hielten sich mit ihren Kommentaren nicht zurück. Aber Zeppelin hatte auch Förderer und Unterstützer. Der württembergische König zum Beispiel stellte ihm bei Friedrichshafen ein Testgelände zur Verfügung. Dort baute der Graf sein Unternehmen auf, das später von seinem Ingenieur Claude Dornier übernommen und erweitert wurde. Es gibt Stimmen auf dem Journalistenmarkt, die dies als den Ursprung der heutigen regionalen Zusammenballung von Rüstungsfabriken am Bodensee bezeichnen, als den Nukleus von mehr als einem Dutzend kriegswaffenproduzierender Unternehmen rund um den See. Diese direkte Kausalität zwischen Ferdinands Testfeld und dem heutigen Waffenschmiedepool ist jedoch eine steile These.
Auf nach Überlingen!

Überlingen ist eine schöne, kleine Stadt und als „Slow City“-Mitglied bekennt es sich als bürgernahe, lebenswerte, die Nachhaltigkeit respektierende Gemeinde. Es blickt auf eine lange Vergangenheit als Sommerfrische zurück. Die elegante Seepromenade stammt aus der Frühzeit des Tourismus, als Überlingen mit dem Logo „Nizza des Nordens“ für sich warb.
Die Altstadt ist malerisch und gepflegt. Im Rücken Weinberge, vorne der See mit den hingetupften Segelbooten, und wenn der Tourist Glück hat, zieht darüber ein Zeppelin lautlos, träge und riesig seiner Wege – was für eine Postkarte! Die Sommerurlauber sind ein nicht zu übersehender Faktor, allerdings, aber ins kleinstädtische Leben soweit integriert, dass von dem hässlichen Gesicht eines sogenannten „Overtourism“ nichts zu merken ist. Der Ort steht modellhaft für die anderen Städte am Bodensee, für Konstanz, Lindau, Friedrichshafen und Radolfzell, die den Tourismus aufgenommen haben, ihre städtische Struktur aber zu bewahren verstehen. Massentourismus gehört zur Kategorie Dumpinglohnsektor und bildet zerstörerische Tendenzen aus. Die wohlhabende Bodenseeregion scheint sich dem entziehen zu können. Vielleicht, weil sie nicht nur vom Tourismus und vom Obst-, Gemüse- und Weinbau lebt?
Schattenwirtschaft am Bodensee
Die Feriengäste am Überlinger Strandbad Ost kennen vermutlich die Wallfahrtskirche Birnau, den Affenberg und die Therme, all die Attraktionen rund um Überlingen. Sie wissen aber nicht, dass in der Nähe, etwa fünfhundert Meter entfernt in Richtung Nußdorf – auch so ein heimeliges Ferieninselchen – die Firma Diehl Defense unter anderem den Lenkflugkörper Sidewinder baut. Es kümmert sie vermutlich auch nicht. Obwohl man sicher nicht falsch liegt in der Annahme, dass nicht wenige Urlauber es vorziehen würden, lieber ein bodengebundenes Luftabwehrsystem zu besichtigen als den geschnitzten Hochaltar des Überlinger Münsters – wenn sie es wüssten und wenn sie die Wahl hätten.

So ist es allenthaben. Welcher Tourist weiß schon, dass in unmittelbarer Nähe seines Feriendomizils irgendwo auf der deutschen oder schweizerischen Seite gepanzerte Fahrzeuge gebaut werden, militärische Software entwickelt, Drohnen, großkalibrige Munition, Laserzielmarkierer und Mikrowellenwaffen produziert werden? Die Unternehmen selbst halten sich bedeckt und achten sorgfältig darauf, möglichst unter dem Schirm der öffentlichen Wahrnehmung zu bleiben. Sie pflegen gute Beziehungen zu den Gemeindeverwaltungen, auch zur Konstanzer Universität, wo sie zum pazifistischen Ärger mancher Medienvertreter Ingenieure rekrutieren, sie bieten qualifizierte, gutbezahlte und sichere – „krisen“sichere – Arbeitsplätze und tragen wesentlich zum wirtschaftlich guten Aufgestelltsein der Bodenseeregion bei.
Vermarktung der Bodensee-Ikone
Am letzten Tag meines Bodensee-Aufenthalts sitze ich nachmittags auf der Terrasse des Inselhotels. In diesem Gebäude wurde Ferdinand von Zeppelin 1838 geboren. Es war damals eine Stoffmanufaktur im Besitz des Unternehmers David Macaire, und Ferdinands Vater Fritz versuchte – entgegen seinem Naturell und seiner Sozialisation – als Geschäfts- und Kaufmann in dem schwiegerelterlichen Betrieb zu reüssieren. Vergebens. Zwei Jahre später zog die Familie auf den Girsberg.
Die Tourismusindustrie des Bodensees verfügt über einen respektablen Bestand an berühmten Personen, die sie vereinnahmt hat und für ihre Marketingzwecke einsetzt. Der wichtigste von ihnen, und ihn kennt wirklich jeder, ist Ferdinand von Zeppelin. In Friedrichshafen hat man am Rande des Messegeländes den Zeppelin-Hangar eingerichtet, in dem die Rundfluggäste einchecken. Für die Zaungäste gibts dort das gleichnamige Restaurant mit Aussichtsterrasse, damit der Handyspeicher sich mit Fotos der startenden und landenden Giganten füllt.

Niemand ist so mit dem Bodensee verbunden wie der Luftfahrtpionier von Zeppelin. Nicht die verzankten Päpste und Gegenpäpste des Konstanzer Konzils. Nicht Hermann Hesse, der die Höri am Untersee veredelt, nicht Annette von Droste-Hülshoff, die Meersburg beherrscht. Am ehesten vielleicht die Familie Bernadotte mit ihrer Blumeninsel Mainau… Mein Blick geht auf den See. Er ist stahlblau, das Wasser kräuselt sich im lauen Wind. Ich hebe mein Glas und bringe einen Toast aus auf Ferdinand von Zeppelin, den Luftschiffer. Den technischen Tüftler. Den Soldat. Den Mythos. Die Ikone vom Bodensee.
Nachtrag: Fliegt oder fährt der Zeppelin?
Er fährt. Beim Flugzeug hängt das Fliegen von der Geschwindigkeit ab. Der durch den Propeller (Zug) beziehungsweise das Düsentriebwerk (Schub) entstandene Luftstrom erzeugt über den Tragflächen aufgrund deren Profil einen niedrigeren Luftdruck als darunter. Ab einer bestimmten Geschwindigkeit ist der Luftdruck unter den Tragflächen höher als darüber – der Flieger fliegt.

Beim Zeppelin ist es das Traggas, das für den Auftrieb sorgt. Da Luft Gewicht hat, muss es „leichter als Luft“ sein, also weniger Luftmoleküle als die umgebende Luft enthalten. Die heutigen Zeppeline sind mit Hochtechnologie ausgestattet und mit etwa 70 Metern Länge und 8000 Kubikmetern Volumen an die modernen Bedürfnisse angepasst. Dagegen hatte der 250 Meter lange Zeppelinriese „Hindenburg“ ein Volumen von 200 000 Kubikmetern. Das Prinzip des Auftriebs der Zeppeline hat sich seit Ferdinands Zeiten jedoch nicht geändert.