
Aus der sächsischen Provinz nach Australien
Elend und Glanz der Amalie Dietrich

Leipzigs Grassi-Museum, erbaut in der Weimarer Zeit, ein prägnanter Bau mit Innenhöfen, beherbergt unter seinen Art-Déco-Dächern drei Museen: Das Museum für Angewandte Kunst – für Musikinstrumente – für Völkerkunde. Museen haben ihren festen Platz in der touristischen Planung, aber Touristenmagneten sind sie in der Regel nicht, auch wenn einige Weltberühmtheiten den Rang als Reiseziel an sich beanspruchen können. Oft genug sind sie aber nur zweite Wahl („… bei Regen ins Museum“) und dürfen Lückenbüßer spielen. Museen für Völkerkunde sind da keine Ausnahme.
Funktion und Herkunft der ausgestellten, fremdartigen Exponate solcher Museen werden durch Texte sorgfältig erklärt, aber die Hintergründe ihres Weges aus den fernen, ehemaligen Kolonien nach Europa bleiben meist im Dunkeln. Dass hinter jeder Federkrone, jedem Bumerang, jedem muschelbestickten Gewand ein Mensch steht, der das Objekt in seinen Besitz gebracht hat (auf welche Art auch immer) – das ist oft eine Geschichte für sich, und eine abenteuerliche dazu. Was eine sächsische Handwerkertochter mit den Ethnografica von Leipzigs Museum für Völkerkunde zu tun hat, ist so eine Geschichte.
Von diesem Museum, genauer gesagt von seiner Abteilung Ozeanien-Australien, führt ein Pfad voller Umwege über Österreich, ganz Deutschland, über polnische Gebiete, die Niederlande und Nordostaustralien bis in das sächsische Dorf Siebenlehn, heute ein eingemeindeter Ortsteil von Großschirma, und dort geradewegs in das Haus eines „Beutlers“.
Vor rund zweihundert Jahren:
Die Handwerkerfamilie Nelle ist ein geachtetes und respektiertes Mitglied in Siebenlehn. Vater Nelle arbeitet mit Leder, er fertigt Taschen, Geldbeutel („Beutler“), Hosenträger, Handschuhe, Lederhosen, mit Sägespänen gefüllte Bälle und andere Produkte, alles aus Leder, die er auf den umliegenden Märkten verkauft. Die Familie ist nicht arm. Das Haus, in dem sich auch die Werkstatt befindet, gehört ihnen, und eine kleine Sparanlage gibt es auch. Das jüngste Kind der Nelles, Amalie, von der Mutter zärtlich Malchen genannt, besucht wie die anderen Kinder die Dorfschule. Die Mutter hängt besonders an ihrer Jüngsten und ist stolz auf die Intelligenz der kleinen Leseratte.
Neugier, Wachheit und Wissbegier, aber auch Eigensinn und Querdenkerei scheinen bereits bei dem Kind Amalie Charaktereigenschaften gewesen zu sein. Alles Indizien für ein zukünftiges Leben, in dem weder die geografischen noch die geistigen Grenzen des eigenen Dorfmilieus als gottgegeben akzeptiert werden, ein Leben, dem Extreme bevorstehen – Höhenflüge und Abstürze, Anerkennung und Not, Zeiten unsäglicher Dürre und Perioden unabhängiger und großartiger Selbstentfaltung.
Mit fünfundzwanzig Jahren heiratete Amalie den um zehn Jahre älteren, aus Thüringen zugezogenen Botaniker Wilhelm Dietrich. Die Eltern waren skeptisch. Ihnen missfiel der Schwiegersohn aus der Fremde, mit dessen Beruf sie nichts anzufangen wussten. Aber sie hielten zu ihrer Tochter. Zunächst ließ sich alles ja auch ganz gut an. Das junge Paar wanderte morgens, mit Schmetterlingsnetz und umgehängter Botanisiertrommel, in die Landschaft, um seltene Pflanzen und Insekten zu sammeln. Wilhelm Dietrich brachte seiner Ehefrau und aufmerksamen Schülerin die Grundlagen der Pflanzenbestimmung bei, erklärte und belehrte. Zuhause wurden die Objekte geordnet, katalogisiert und Sammlungen zusammengestellt – Heilpflanzen für die Apotheker, Giftpflanzen für Forschungslaboratorien, Farne, Moose … Mutter Nelle besorgte den Haushalt und kümmerte sich um die kleine Tochter Charitas, die zwei Jahre nach der Hochzeit geboren wurde. Wenn der Verkauf der Sammlungen schleppend lief und die Aufträge ausblieben, halfen die Eltern mit ihrem Ersparten aus.
Abstieg

Die Probleme begannen mit dem Tod der Mutter. Amalie fand sich plötzlich in eine Situation katapultiert, der sie nicht gewachsen sein konnte. Sie war nun zuständig für den Haushalt, für ein Kleinkind, für den verwitweten Vater, der regelmäßige Mahlzeiten erwartete – und Ehemann Wilhelm forderte weiterhin ihre Mitarbeit als Vollzeitassistentin ein. Das, was man heute als (Un)Vereinbarkeit von Familie und Beruf bezeichnet, traf sie unvorbereitet und mit voller Wucht. Damals war dieser Begriff noch nicht erfunden. Die Situation, die er bezeichnet, erwächst aber unter entsprechenden Umständen unabhängig von Ort und Zeit und produziert Stress, Not und Abgehängtsein. Heute ist sie ein gesellschaftliches Massenphänomen, und noch immer nicht gelöst.
Das Geld reichte an allen Ecken und Enden nicht. Die Ehe begann, ungemütlich zu werden. Das Kind Charitas wurde immer öfter bei Nachbarn oder Bekannten untergebracht, da die Eltern ihre Sammeltouren in weiter entfernte Gebiete verlagerten und nicht mehr täglich nachhause kamen. Dafür wurde Kostgeld fällig. Die Einkommenssituation besserte sich nicht. Und Wilhelm Dietrichs Selbstbild als erfolgreicher Forscher und Wissenschaftler vertrug sich auf Dauer nicht mit der täglichen Plackerei, dem schweren Rückenkorb voller Pflanzen, die sich kaum verkauften, und vor allem nicht mit seinen zerrinnenden Illusionen. Als er eine Affäre mit einer jungen Dorfschönheit anfing, flüchtete Amalie mit Charitas nach Bukarest zu ihrem Bruder, der sich dort eine Existenz aufgebaut hatte. Nach einem Jahr kehrte sie jedoch zurück, auch um der Ehe noch eine Chance zu geben. Aber es funktionierte nicht.
Ganz unten
Immerhin hatte Amalie in all diesen Jahren, so elend sie auch waren, einen naturkundlichen Grundstock an Wissen, Kenntnissen und Erfahrung aufgebaut, sodass sie sich die Sammeltätigkeit auch ohne Aufsicht ihres Lehrmeisters zutraute. Sie begann ausgedehnte, wochenlange Reisen durch Ost-, Mittel- und Westeuropa, von den Alpen bis zum Nordseestrand. Den Rückenkorb hatte sie durch einen Karren ersetzt, gezogen von ihrem Hund. Wurde die Last zu schwer, packte sie auch selbst an. Man stelle sich vor, wie sie, angeschirrt wie ein Zugtier, zusammen mit ihrem Hund Hektor den Karren kreuz und quer durch die Lande zog!
Unterwegs besuchte sie Kunden und präsentierte ihre Sammlungen, die durchaus Anklang fanden und einige Taler einbrachten. Ab und an wurde nun auch einer der gelehrten Naturforscher auf sie aufmerksam.
Charitas ging inzwischen zur Schule und wohnte als Kostgängerin bei verschiedenen Nachbarn. Ihr Vater betrachtete sich als nicht zuständig für die Erziehung und Betreuung seiner Tochter.
Der entscheidende Wendepunkt
Auf einer ihrer Reisen kam Amalie in Hamburg mit einem Kunden ins Geschäft, der ihre Sammlungen hervorragend fand und sie en gros kaufte. Dr. Meyer war Fabrikant und Hobbybotaniker und sollte in ihrem weiteren Leben noch eine bedeutende Rolle spielen. Im Nachhinein besehen war der Zufall, der sie zu Dr. Meyer führte, der entscheidende Wendepunkt.

Meyer brachte Cesar Godeffroy ins Spiel. Johann Cesar VI. Godeffroy, Sohn einer alteingesessenen Hamburger Kaufmannsfamilie, ein schwerreicher, hanseatischer Unternehmer mit eigener Schiffsflotte, war dabei, eine großangelegte, ethnografische Sammlung für sein Privatmuseum aufzubauen. Grenzen für sein Hobby setzte er sich nicht. Die Kapitäne seiner im pazifischen Inselreich operierenden Handelsschiffe waren angehalten, mitzubringen was an Exotischem vorhanden war. Als Amalie den „König der Südsee“ kennenlernte, sammelten außerdem ein halbes Dutzend festangestellter Naturforscher vor Ort ausschließlich für das geplante Megaprojekt.
Die erste Begegnung mit Cesar Godeffroy geriet für Amalie zum Desaster. Der große Boss war alles andere als beeindruckt von der ungelehrten Autodidaktin, die sich nicht einmal ordnungsgemäß angemeldet hatte. Amalies Hoffnung, als Angestellte das Team der Naturkundler zu erweitern, schmetterte er umstandslos ab. Er konnte sich eine Frau in diesem Job wohl auch nicht vorstellen. Aber Amalie blieb dran. Die Aussicht auf einen Ausweg aus ihrem privaten Elend, die Aussicht auf ein regelmäßiges Einkommen und damit verbunden die Möglichkeit, ihrer Tochter eine Ausbildung zu finanzieren, die Aussicht auf Aufstieg und Anerkennung: Es ließ sie nicht los! Zu ihrem dürftigen Netzwerk gehörten inzwischen einige anerkannte Naturwissenschaftler, die sie um Referenzen bat. Besser vorbereitet und mit Empfehlungsschreiben versehen wagte sie einen zweiten Anlauf. Die Hand von ihrem Gönner Dr. Meyer war auch im Spiel.
Aufbruch
1863 bestieg Amalie als Angestellte von Godeffroys Firma eins seiner Schiffe mit dem Ziel Australien. Sie war zweiundvierzig Jahre alt. Die fünfzehnjährige Charitas verblieb in der Obhut der Familie Meyer, die sie unter ihre Fittiche nahm und sich um ihre Ausbildung zur Erzieherin kümmerte. Als Mutter und Tochter sich nach zehn Jahren wiedersahen, war Charitas eine erwachsene Frau mit abgeschlossener Ausbildung, selbständig und verlobt. Den bitteren Preis der gegenseitigen Entfremdung zahlten beide.

Nach 81 Tagen Seereise ging Amalie in Brisbane an Land. Die fremde Kultur, die ungewohnte Sprache und das subtropische Klima scheinen von Anfang an für sie keine nennenswerten Hindernisse gewesen zu sein. In den folgenden Jahren wechselte sie mehrmals ihren Wohnsitz, auf der Suche nach neuen, ergiebigen Jagdgründen, blieb aber in Queensland im Nordosten Australiens. Die selbstbestimmte Arbeit, die Entscheidungsfreiheit, die ihr gewährt wurde, die zunehmende Anerkennung von Seiten ihres Arbeitgebers Godeffroy ebenso wie von der Fachwelt – all dies motivierte sie zu Höchstleistungen und unermüdlicher Tätigkeit. Im Wesentlichen scheint sie ununterbrochen gearbeitet zu haben.
Und sie weitete den Radius ihrer Sammelobjekte aus, beschränkte sich nicht mehr auf Pflanzen und Insekten. Die Jagdbeute umfasste nun auch Säugetiere, Fische, Muscheln, Reptilien und Vögel. Vor ihrer Abreise nach Australien hatte man ihr in Godeffroys Firma einen Crashkurs verpasst, in dem sie das Abbalgen, Präparieren und Einlegen in Spiritus lernte. Auch Skelette und Schädel von Ureinwohnern schaffte sie nach Hamburg, ein Umstand, der in der aktuellen Diskussion für dunkle Flecken auf ihrer ansonsten reinen Weste sorgt.
Anerkennung und Ehrungen
Die Fülle, aber auch die Qualität ihrer gesammelten Objekte, darunter viele seltene und unbekannte Arten, blieb in den Fachkreisen nicht ohne Echo. Australische Spezies und der Name Amalie Dietrich wurden in einem Atemzug genannt. 1867 ernannte sie der entomologische Verein in Stettin zum ordentlichen Mitglied. Im selben Jahr ehrte man sie auf der Pariser Internationalen Gartenbau-Ausstellung für ihre Sammlung australischer Hölzer mit einer Goldmedaille.

Ihr Name ging in die Neubenennung vieler bisher unbekannter Pflanzen und Tiere ein. Wenn ein Brief aus Hamburg ihr mitteilte, es seien zwei neue Arten Wespen nach ihr benannt – was waren dagegen Krankheiten, Gefahrensituationen und eine abgebrannte Hütte? Sie hatte die volle Unterstützung aus der Heimat, gebot inzwischen über zwei Helfer und verantwortete das finanzielle Budget. Ihre Motivation war ungebrochen. Cesar Godeffroy war natürlich hochzufrieden mit seinem erfolgreichen, weiblichen Workaholic im fernen Australien, der Ladung um Ladung exotischer Objekte per Schiff nach Hamburg expedierte.
Wie alle Sammler der damaligen Zeit beschaffte auch Amalie Alltags- und Kultgegenstände der Ureinwohner, Dinge des täglichen Gebrauchs, Kleidung, Waffen, spirituelle und Kunstobjekte. Skrupel plagten sie dabei gewiss nicht. Moralische Bedenkenträgerei hatte damals noch niemand auf dem Schirm. In der Gewissheit der eigenen Überlegenheit bediente man sich an den vorhandenen Ressourcen. Heute wird dies unter dem Schlagwort „Raubkunst aus den ehemaligen Kolonialgebieten“ medienwirksam thematisiert. Nicht alle der betreffenden Gegenstände hat man den Ureinwohnern jedoch mit Gewalt oder unter Drohungen entwendet. Ein Großteil wurde gekauft oder durch Tausch erworben. Auch Geschenke der Indigenen an die Fremden fanden ihren Weg nach Europa. Vor diesem Hintergrund besehen sagt der Begriff „Raubkunst“, der alle in diese Sammeltätigkeit Involvierten pauschal kriminalisiert, einiges über unsere ethische Weltanschauung im 21. Jahrhundert aus, hat aber mit einer sachlichen, differenzierten und kritischen Analyse wenig zu tun.

1873 landete Amalie wieder in Hamburg und der dankbare Godeffroy bot ihr eine Tätigkeit in seinem Museum an. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte sie in einem Seniorenstift.
Amalies Erbe
Ende der 1870er Jahre begann der geschäftliche Niedergang von Godeffroys Handelsfirma, deren Abwicklung sich nach der Zahlungseinstellung über mehrere Jahrzehnte hinzog. Auch das Museum war nicht mehr zu halten und wurde zum Verkauf ausgeschrieben. Die Ankündigung löste europaweit einen Run auf die berühmten Sammlungen aus, die so umfangreich waren, dass die Kaufverhandlungen erst 1885 abgeschlossen waren. Dem Leipziger Museum für Völkerkunde (damals: Museum für Länderkunde) gelang es schließlich, den größten Teil der ethnografischen Sammlungen des Godeffroy-Museums für sich zu sichern und zu erwerben.

Band 4 der Reihe „Kunstwerke der Welt“, herausgegeben von den Staatlichen Ethnografischen Sammlungen Sachsen, ist Australien und Ozeanien gewidmet. Von den Dutzenden von Naturwissenschaftlern, Gelehrten, Forschern, Reisenden, Sammlern, Seefahrern und Missionaren, die Exponate aus der Pazifikregion zum Bestand des Museums für Völkerkunde Leipzig beigesteuert haben, werden in der schmalen Broschüre etwa ein Dutzend Personen namentlich erwähnt, deren Beitrag von besonderer Bedeutung ist. Darunter auch der Name Amalie Dietrich.