Ihr kleinen Leute von der Strasse – Was nun?

Ihr kleinen Leute von der Strasse – Was nun?

Frei nach Hans Fallada

 

An die Politiker und Mainstream-Journalisten: Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie das ankommt beim Bürger, wenn ihm immer wieder erklärt wird, man müsse ihn „abholen, mitnehmen und hinführen“? Wie er sich vorkommt, wenn er hören muss, man habe ihm einen Sachverhalt „nicht richtig erklärt“, mit anderen Worten: Wir müssen es noch ausführlicher und einfacher formulieren, „der kleine Mann von der Straße“ begreift’s nicht. 

Die kleine Frau natürlich auch nicht. Bei dem Begriff „kleiner Mann“ handelt es sich linguistisch um ein generisches Maskulinum, das heißt, das männliche Wort Mann steht in diesem Fall für die Allgemeinheit, also die Leute. Es sagt ja auch niemand „die kleinen Männer von der Straße“. Dieses etwas sperrige, kurze Vorwort muss sein, denn unsere avantgardistischen Frauenbeauftragen in Kommunen, Kirchen und Hochschulen haben dem generischen Maskulinum den Kampf angesagt. Bisher haben sie erfolgreich den Studenten zum Studierenden, den Flüchtling zum Geflüchteten umverwandelt – alles im Dienste der Geschlechtergleichstellung, bei der man sich sprachlich und gendergerecht so richtig austoben kann, im Gegensatz zum realen, analogen Leben, wo die Umsetzung der männlich-weiblichen Gleichberechtigung richtig harte Arbeit, Zähigkeit, Resilienz und Zeit erfordert.

Damit bin ich auf einen Nebenschauplatz geraten, der eine eigene Kolumne wert ist.  Deshalb zurück zu den „kleinen Leuten“, die man „mitnehmen“ muss.


Offensichtlich sind sie eine Gruppe. Gruppen haben Merkmale, anhand derer man sie definieren kann. Damit begibt man sich schon wieder auf ein Minenfeld. Je präziser man Merkmale, Charakteristika und Verhaltenseigentümlichkeiten einer Gruppe herausarbeitet, umso „sichtbarer“ wird sie, ausgrenzbarer, angreifbarer. Wäre es deshalb nicht einfacher, den Begriff Gruppe im Sinne der Gleichstellung aller hier Lebenden bis ins Nebulöse zu verwässern oder ihn gleich auf den Müll unseres Sprachschatzes zu werfen? Geht aber nicht, denn wir haben Minderheitengruppen, deren Schutz wir gewährleisten und die deshalb klar definiert sein müssen. Bezeichnenderweise haben diese Minderheiten eigene Zentralräte und Interessenvertretungen, die aufpassen, dass Schutz, Würde und Rechte ihrer Mitglieder nicht angetastet werden, die bei Verbalentgleisungen sofort zur Stelle sind und politische Unkorrektheit medial-öffentlich thematisieren. 

Es gibt viele Tabus in unserer Sprache – man denke an das berüchtigte N-Wort -, aber die „kleinen Leute“ gehören gewiss nicht dazu. Unbefangen wird der Begriff hin- und hergeworfen zwischen Politikern, Moderatoren und Medienvertretern, die offenbar genau wissen, wovon sie sprechen und jeden Interpretationsspielraum für überflüssig halten. Wir haben hier den wundersamen, hochseltenen Fall, dass die Medialen sich einig sind.

Mehr noch: Alle – ob links, rechts, gemäßigt – alle sind sie Kümmerer, die die „kleinen Leute“ unter ihre Fittiche nehmen und ihnen sendungsbewusst die Probleme und dazugehörigen Lösungen der Welt erklären. 

Daraus folgt, dass die medialen Veröffentlicher selbst nicht zur Gruppe der „kleinen Leute“ gehören können. Das ist zwar ein Definitionsmerkmal per Umkehrschluss, aber irgendwie muss man sich der Gruppe ja nähern. Die „kleinen Leute“ sind diejenigen, die man „überzeugen“, „mitnehmen“, „abholen“ muss. Sie brauchen also Nachhilfe. Aber dafür sind ja die Kümmerer da, die sich selbst gelegentlich auch als „Eliten“ bezeichnen, und die nicht müde werden, die auszugleichenden Defizite der „kleinen Leute“ abzuarbeiten. Die Gruppe der Global Player der Wirtschaft zählt natürlich nicht zu den „kleinen Leuten“. Sonst würden die politischen und medialen „Eliten“ sich auch mal um sie kümmern, anstatt vor ihnen einzuknicken.


Sie ahnen es: Bei den „kleinen Leuten“ handelt es sich um die sogenannte „schweigende Mehrheit“ der Bevölkerung. Sie hat keine Lobbyistenvertretung, keinen Zentralrat, der ihre Interessen durchsetzt. Sie ist keine geschützte Minderheit und kein machtvoller Wirtschaftskonzern. Sie ist garnicht fassbar in ihrer anonymen Vielfalt. Wen genau sollte eine Interessengemeinschaft des „kleinen Mannes von der Straße“ wohl vertreten? Welches gemeinsame Merkmal definiert ihn?

In jeder Bevölkerung, gleich wie sie sich zusammensetzt, gibt es wie in jeder Großgruppe auch Minderheiten, Randgruppen, Kleingruppen und außerdem die Mehrheit. Das ist erstmal wertneutral. Das entlarvende Wörtchen in diesem Zusammenhang ist der Begriff „klein“; und die Tatsache, dass eine selbsternannte „Elite“ ihn benutzt, um sich selbst abzugrenzen und die Mehrheit nach unten zu verweisen, wo reguliert werden muss. Der „kleine Mann von der Straße“ ist als Begriff nicht weniger diffamierend als das Wort „Zigeuner“. Aber es nimmt sich seiner niemand an. Er hat keine Zentralratswächter, die medienwirksam protestieren. Er ist sozusagen vogelfrei. Man kann ihm Manipulierbarkeit, Unfähigkeit und Dummheit unterstellen, es widerspricht ja niemand. Genau deshalb maßen sich die Partei- und medialen „Eliten“ unisono das Recht an, die „kleinen Leute“ „abzuholen“ wie eine Herde Schafe aus dem Pferch, sie „mitzunehmen“ und „hinzuführen“, dorthin, wo es schon richtig ist.

Der „kleine Mann von der Straße“ erträgt es (die kleine Frau auch). Und schweigt – noch. Die in dem Wort „klein“ ständig mitschwingende Demütigung der Menschen, die sich offenbar mit Vorliebe auf der Straße aufhalten, obwohl sie doch auch ein Zuhause haben,  wird permanent, unreflektiert und rücksichtslos gerade von denen ausgeteilt, die sich ansonsten sehr bewusst, gehorsam und beflissen an die sprachlichen Vorgaben der Political Correctness halten. 

Solange die „kleinen Leute“ allerdings ihr Kleinsein verinnerlicht halten und von sich selbst als „kleinem Mann“ sprechen, was weit verbreitet ist, spielen sie einem Weiter so der Politiker und Journalisten und ihrer unsensiblen Arroganz in die Hände.


Aber vielleicht wacht er ja einmal auf, der „kleine Mann“. Stellt sich eines Morgens vor den Spiegel, sieht sich an, hat plötzlich den richtigen Gedanken und spricht die richtige Frage: Bin ich das, der kleine Mann? Und gibt seinem Spiegelbild die Antwort: Ich bin ein erwachsener, mündiger und wahlberechtigter Bürger in diesem Land und niemand braucht mich an die Hand zu nehmen wie ein renitentes Gör, das sich widerspenstig dem richtigen Weg verweigert. Der nächste Schritt ist dann die richtige Tat, wie auch immer sie abläuft. 

Wenn die Gedanken stimmen, dann stimmen auch die Worte, und wenn die Worte stimmen, dann werden auch die Taten stimmen – ist in Quintessenz eine Aussage des weisen Konfuzius.

Zum Weiterlesen:

Hans Fallada: Kleiner Mann – was nun ?
* Unter die Haut gehende Story eines sozialen Abstiegs … mehr

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