
Ein flüchtiges, verderbliches Gut
Leipzigs Karl-Heine-Straße
Leipzigs Marketingexperten und die verschiedenen Leipzig-Blogger sortieren die Karl-Heine-Straße und den Stadtteil Plagwitz in die Schublade „Szene“. Das Areal findet sich auch im Angebot „Unbekanntes Leipzig“ und soll als „Geheimtipp“, obwohl es längst keiner mehr ist, die Szenegänger ködern. Die Vorhut des Pauschaltourismus schnuppert hier bereits herum, anstatt wie vom Reiseveranstalter vorgeschlagen in der Altstadt zu bummeln oder die Ausstellung X zu besuchen. Der Gentrifizierungsprozess hat unzweifelhaft eingesetzt, ganz angekommen ist der Mainstreamtourismus allerdings noch nicht.

Aussehen, Angebot und Atmosphäre der Karl-Heine-Straße sind nicht so recht kompatibel mit den Erfordernissen eines Touristen-Hotspots. Zuviel unsaniertes Gemäuer, zuviel Individualität, Kantigkeit und Unerwartetes – zuwenig durchorganisiertes Eventmanagement, zuwenig touristische Infrastruktur und Logistik, zuwenig professionelle Glätte. Genau deshalb lohnt eine Momentaufnahme, denn besagte Meile durchläuft gerade jene hochinteressante, „coole“ Phase, in der sich die ersten, reizvollen Lebenszeichen – kreativ, chaotisch, uneinheitlich – einer bis dato heruntergekommenen, tristen Vorstadt regen. Diese Phase ist meist sehr kurz, wenige Jahre nur. Danach sind die Weichen gelegt und es geht ab – entweder in Richtung Touristenmeile oder in Richtung Wohnviertel, verkehrsberuhigt, kinderfreundlich, saniert, oder was auch immer. Die Karl-Heine-Straße in ihrer heutigen Gestalt ist also ein flüchtiges, verderbliches Gut.
Sie liegt in Leipzigs Südwesten, bildet die Nahtstelle zwischen den Stadtteilen Plagwitz und Lindenau und ist benannt nach Ernst Karl Erdmann Heine, einem Industriellen und kapitalistischen Unternehmer mit exzellentem Riecher für lukrative Geschäftemacherei.

Er war zweifellos ein Visionär, der gelernte Rechtsanwalt Heine. 1854 erwarb er seinen ersten Grundbesitz in Plagwitz, einer versumpften, wasserreichen Landgemeinde vor den Toren Leipzigs, die gerade mal zwanzig Jahre zuvor das feudale Agrarsystem hinter sich gelassen hatte. Die Industrialisierung war dabei, Fahrt aufzunehmen und suchte – „händeringend“ würde man heute sagen – nach Arbeitern. Die nun freien Bauern waren leicht zu überreden, Haus und Hof an Grund- und Immobilienspekulanten wie Karl Heine zu verhökern, die ihnen attraktive Preise boten. So verwandelten sich die ehemals ländlichen Dörfer in den folgenden Jahrzehnten in Industriestandorte und Arbeiterwohnsiedlungen. Der unermüdliche Heine kaufte und bebaute Grundstücke, ließ Entwässerungsgräben und Gleisanlagen anlegen und trieb zusammen mit anderen Frühkapitalisten die Erschließung von Plagwitz zum Industriestandort voran. Im Lauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durfte der Ort nach und nach eine Gasanstalt, einen Bahnhof, eine Schule, eine Bibliothek (eingerichtet vom Arbeiterbildungsverein) und jede Menge Wohnhäuser, teils in dichter Bebauung, sein eigen nennen. Dieses charakteristische Arbeitergesicht zeigt Plagwitz vielerorts noch heute. Die alte industrielle Bausubstanz steht noch, teilweise verfallen, die großen Industrieanlagen mit ihren ehemals tausenden von Arbeitern und Arbeiterinnen sind spätestens seit der Wende stillgelegt. Zerbrochen, zerbröckelt, bemoost. Ruinen.
600 Meter Straße
Die Karl-Heine-Straße führt von dem riesigen Gelände der alten Leipziger Baumwollspinnerei als breite Durchgangsschleuse direkt in Richtung Leipzig-Zentrum. Ihre mehrstöckigen Wohnblocks lassen darauf schließen, dass ihre Bewohner zu Karl Heines Zeiten nicht zur alleruntersten Arbeiterschaft gehörten. Die lebten in erbärmlicheren Behausungen. Die Villen der Fabrikeigentümer standen wieder woanders.
Genau genommen handelt es sich bei der touristisch beworbenen Plagwitzer „Szenemeile“ um ein etwa 600 Meter langes Teilstück der Karl-Heine-Straße. Es reicht von der König-Albert-Brücke des Karl-Heine-Kanals bis zur Zschochersche Straße. Westlich des Kanals ist Ödland und unsanierte Bebauung, östlich der Zschocherschen setzt sich die Karl-Heine-Straße als unauffällige Durchgangsstraße in Richtung Innenstadt fort.

Ein seltsames Gebilde ist sie, diese Karl-Heine-Straße (ich meine damit immer die besagten 600 Meter). Von der Statur her ein Boulevard, gekennzeichnet von der fernen Ära der wilhelminischen Gründerzeit: Massive drei- und vierstöckige Backsteingebäude, Wohnblöcke mit stuckverzierter Fensterumkleidung; die Straße von Alleebäumen gesäumt und geräumig, als müsse nicht an Platz gespart werden, die Bürgersteige von geradezu luxuriöser Breite. Dieses selbstgefällige Gesamtbild einer Epoche, die aus dem Vollen schöpfen konnte, wird hier in diesem Straßenabschnitt zwischen Karl-Heine-Kanal und Zschochersche Straße von seiner derzeitigen Bewohnerschaft allerdings ungeniert vereinnahmt und aufgemischt. „Bohème“ ist der gängige Ausdruck für diese Menschen, die sich hier eingenistet haben, weil die Mieten billig und die Nachbarn Gleichgesinnte sind.
Über die Fassaden der Erdgeschosse samt Regenrohren und hier und da vorhandener Sitzbänke sind die Graffittikünstler flächendeckend hinweggegangen. Der Welterfolg der Straßengraffittis, die ja durchaus nicht jedermanns Geschmack treffen, ist phänomenal. Es gibt sie überall, auf allen Kontinenten. Im südafrikanischen Johannesburg werden sogar Graffittiführungen angeboten. In Leipzig verbergen sie gnädig die müde dahinverwitternden Hausfassaden und tristes DDR-Grau. Die Hauseingänge sind meist schäbig. Aber einige, und es werden immer mehr, sind ordentlich instandgesetzt und farblich überpinselt.
Das kulinarische und kulturelle Angebot dieser 600 Meter Straße ist ebenso eigenwillig wie ihr Aussehen und ebenso im Umbruch: Im Aufstieg, sozusagen auf dem Sprung vom Kleinimbiss zum Exclusivbistro mit Zweit- und Drittfiliale. Oder als besonderer Fund, der so lange in einzigartiger, wenn auch ökonomisch bescheidener Blüte steht, so lange sein Habitat unzerstört bleibt. Zur ersten Kategorie zählen zweifellos „Das Kartoffelfräulein“ und „La Croissanterie“. „Buchhandlung Drift“ und der Filmclub „Cineding“ bedienen die Interessen einer vermutlich äußerst homogenen Stammgästeschar, die sich aus dem örtlichen Umfeld rekrutiert. Sie werden verschwinden oder im Zuge der Gentrifizierung Charakter und Aussehen komplett verändern.
Der Kiezimbiss

Das „Kartoffelfräulein“ ist ein Imbiss, verwaltungstechnisch gesehen, und ein Imbiss rührt normalerweise keine Emotionen auf. Warum also schimmert hinter allen, wiederhole: allen, Internetkommentaren zu diesem äußerlich unscheinbaren Lädchen eine geradezu liebevolle Begeisterung durch? Es muss etwas Besonderes dran sein, an diesem „Kartoffelfräulein“-Imbiss! Durchs Fenster sah ich die Kunden, wie sie zum Eingang strebten, um ihre gefüllte Backkartoffel abzuholen. Auf ihren Gesichtern machte ich Vorfreude und Zufriedenheit aus, bei allen.
Um nicht ins Schwärmen abzugleiten, will ich dieses Juwelchen möglichst nüchtern Punkt für Punkt beschreiben:
a) Äußerlich unauffällig. Die Hausgraffittis rechts und links lassen sogar das Aushängeschild mit Erfolg verschwinden.
b) Auf dem Bürgersteig davor standen ein Holztischlein und zwei lehnenlose Bänke. Sie waren nicht besetzt, es war November. Das Mobiliar sah zusammengestückelt aus, so als hätte die Oma ihrer Enkelin zum Start-up mit ein paar überflüssigen Stücken aus ihrer Laube ausgeholfen. Im Sommer ist das Außenmobiliar umfangreicher.
c) Die junge Frau hinter der Theke lässt jede Form von professionellem Drill vermissen. Sie begrüßt jeden Besucher mit der Liebenswürdigkeit einer guten Freundin. Viele ihrer Kunden, nein: Gäste, sind Stammkunden. Bei einer Kiezfremden wie mir schimmert hinter der Liebenswürdigkeit noch ein bisschen Neugier durch.
d) Die Räumlichkeit ist winzig, drei oder vier Sitzplätze. Man sitzt entweder draußen oder nimmt sich den Imbiss mit.
e) Das Speiseangebot ist genial. Das geht einem aber erst hinterher auf. Es gibt gefüllte Backkartoffeln. Nichts anderes. Die Grundsubstanz ist immer gleich: Doppelfaustgroße, fertig gekochte Ofenkartoffeln lagern in einer Warmhaltebox, werden aus dem Thekenangebot variabel und aufs Üppigste befüllt und mit Dressing übergossen. Die Auswahl an Füllmaterial ist hinreißend und macht aus jeder Kartoffel ein Unikat. Ich meine – derart ein Unikat, dass es in der Erinnerung einen bleibenden Platz einnimmt.
f) Der Name „Kartoffelfräulein“ ist ein Glücksgriff.
g) Ein nicht sicht-, aber wahrnehmbares Beziehungsgeflecht zwischen Imbiss und Kiez ist intakt vorhanden. Der Imbiss passt zum Kiez und der Kiez zum Imbiss. Beides ist alles andere als eine Idylle. Aber es wirkt authentisch, denn es gibt (noch) kaum Fremdkörper. Sobald die Mainstream-Entdeckung vollzogen ist, wird es vielleicht eine touristische Idylle sein, aber kein Kiezimbiss mehr.
Baut Euch ein Bild vom „Kartoffelfräulein“ aus diesen Punkten und entscheidet dann, ob’s lohnt. Die entsprechende Straßenbahn ist die Linie 14.
Gut aufgestellt für die Zukunft

„La Croissanterie“ macht schon durch ihren Namen den Anspruch auf eine gewisse Weltläufigkeit geltend. Das Bäckerei-Café sitzt nur ein paar Häuser, aber eine kleine Welt entfernt vom „Kartoffelfräulein“. Der Bürgersteig davor ist durch große Pflanzkübel zu einem Viereck eingehegt, Caféhausbestuhlung inklusive, und überschattet von gestreiften Markisen. Dahinter funkelt im Laden die beleuchtete und mit Backwaren reichlich bestückte Theke. Das Ganze signalisiert Bleibeanspruch, hier ist nichts improvisiert. Die Zukunft, gleich welcher Art, kann kommen.
Brot, Brötchen, Kuchen, Eiscreme – und natürlich Croissants. Gefüllt auf vielerlei Art, pikant oder süß. Hell ist die Imbiss-Stube, die man eigentlich nicht Stube nennen mag, denn sie ist modern und ohne dekoratives Getue. Liebhaber des Frühstücks à la francaise sind hier genau richtig. Ein Croissant und dazu ein Café au lait oder Cappuccino – und schon geht’s weiter. Unter den Markisen draußen verweilt man auch gern länger, entspannt, beim people watching, das auf der Karl-Heine-Straße besonders reizvoll ist.
Starkes, kulturelles Duo
Filmclub „Cineding“ ist ein Programmkino, in dem all die Perlen laufen, die im Mainstream-Kino nie zu sehen sind. Durchweg OmU (Original mit Untertiteln). Sie haben nicht das Zeug zum Blockbuster, sondern bedienen die Interessen und Ansprüche von Individualisten. Je nach persönlicher Befindlichkeit kann eine solche Perle ein Highlight, eine Provokation, ein Flop oder einfach nur zum Gähnen sein. Wenn sie zum Nachdenken oder Diskutieren anregt, hat sie ihre Funktion eigentlich schon erfüllt.
Programmkinos gibt es in allen Großstädten und „Cineding“ mit seinem quicklebendigen Beiprogramm – Schulkino, Kooperation mit anderen kulturellen Institutionen, Talkrunden, Kino-on-Demand – kann da durchaus mithalten. Der Vorführsaal ist plüschig-schick und selbstverständlich fehlt auch die kleine, elegante Bar nicht, zur Förderung des geselligen Beisammenseins der Stammgäste, Neugierigen und Kenner, am besten mit einem Gin Tonic in der Hand.

Zusammen mit der „Buchhandlung Drift“ gleich nebenan dürfte dieses kulturelle Doppel eigentlich zuversichtlich in die Zukunft sehen. Denn hier kommt noch ein Synergie-Effekt zum Tragen. Wer ins Außenseiterkino unterwegs ist, wird seine Nase unweigerlich auch ins „Drift“ stecken, dessen außenseiterische Buch- und Periodikaliteratur mit dem „Cineding“-Angebot bestens korrespondiert. Passenderweise erstrecken sich „Drifts“ eigentlich reduzierte Öffnungszeiten bis zum Beginn von Cinedings“ Abendprogramm um zwanzig Uhr. Andererseits, wer sich im „Drift“ über Subkultur-Literatur informiert hat, wird sich danach garantiert mit der Neuerwerbung unterm Arm ein paar Schritte nach rechts wenden und den Programmaushang vom „Cineding“ überfliegen. Beider Programm ist nah am Zeitgeist, eher linkslastig und vor allem kritisch.
Ein Blick in die Zukunft: Sollte die Karl-Heine-Straße eine zweite KarLi werden (Karl-Liebknecht-Straße, die angesagte und gut etablierte Ausgehmeile im Südosten von Leipzig), wird das kulturelle Duo überleben, wobei „Drift“ sein Sortiment dann um Bestseller wird erweitern müssen. Werden die beiden, in noch fernerer Zukunft, von großen Handelsketten geschluckt – dann ist in der Vorstellung so mancher Städteplanerköpfe die 600-Meter-Meile endlich vorzeigbar geworden.