
Die Verwirrung der Minijobberin Frau Bürger
Ein selbständiger Unternehmer, nennen wir ihn Herr Schulze, bietet einer ihm gut bekannten Person, nennen wir sie Frau Bürger, einen 450-Euro-Minijob an. Er erhofft sich dadurch persönliche Entlastung von seinem „Verwaltungskram“ und steuerliche Entlastung durch Absetzbarkeit der Lohnkosten. Die beiden sind sich schnell einig in Bezug auf Arbeitszeit, Stundenlohn und Arbeitsinhalt. Also beauftragt Herr Schulze seinen Steuerberater, Frau Bürger als Minijobberin anzumelden. Das Steuerbüro ist korrekt und informiert Herrn Schulze unter anderem, dass in dieser Angelegenheit eine Gebühr an die Knappschaft fällig werde.
Nun macht Herr Schulze einen Fehler. Anstatt nachzuhaken und sich über Art und Höhe der Gebühren kundig zu machen, gibt er dem Steuerbüro grünes Licht und die Anmeldung wird vollzogen. Über die Gebühr denkt er nicht weiter nach. Er ist beruflich stark eingespannt und seine Absicht ist ja gerade das Outsourcen von „Verwaltungskram“ an Steuerberater und Minijobberin. Hätte Herr Schulze besagten Fehler nicht gemacht, wären ihm und Frau Bürger eine Menge frustrierender Erfahrungen erspart geblieben. Aber dann wäre auch dieser Bericht nicht geschrieben worden.
Nach einem Monat wird Herrn Schulze die Rechnung präsentiert: Die abzuführende Gebühr beträgt 31,5 % des Monatslohns, also rund 140 Euro pro Monat. Laut Steuerbüro hat dies etwas mit Kostenerstattung im Krankheitsfall zu tun. Herr Schulze telefoniert mit Frau Bürger und deutet an, dass er das Angebot mit dem Minijob nochmal überdenken müsse.
Frau Bürger möchte den Minijob und wird deshalb aktiv. Zunächst fängt sie an, im Internet zu recherchieren und findet heraus, dass die Minijob-Gebühren der Knappschaft sich zusammensetzen aus 13 % Krankenversicherung, 15 % Rentenversicherung sowie weiteren 3,5 % Gebühren, Umlagen und Steuern. Frau Bürger ist verwirrt. Sie bezieht Regelaltersrente und ist freiwillig krankenversichert. Muss sie ihre Krankenversicherung wechseln? Und wieso müssen für eine Rentnerin wieder Rentenbeiträge entrichtet werden? Das kann nicht sein, denkt sie und ihr gesunder Menschenverstand schlussfolgert spontan und durchaus logisch, dass in diesem Fall die Beiträge dem Arbeitgeber erlassen würden. Sie gräbt wieder im Internet, findet aber keine Hinweise zu diesem Sachverhalt, der ja so selten nicht sein kann. Immer noch verwirrt, greift sie zum Telefon – diese Sache muss doch aufzuklären sein! – und ruft in der Zentrale der Knappschaft in Bochum an. Der Anrufbeantwortet antwortet.
Nun beginnt erst die eigentliche Geschichte, die geeignet ist, Vorurteile zu festigen. Geht man allerdings von der Prämisse aus, dass schlechte Erfahrungen immer noch besser sind als gar keine, so wird man nicht umhinkommen zuzugeben, dass Frau Bürger und Herr Schulze um einige Erfahrungen bereichert werden.
Auch in den nächsten Tagen antwortet der Anrufbeantworter auf Frau Bürgers Anrufe. Sie wendet sich deshalb an eine der Knappschaftsfilialen, in diesem Fall in Karlsruhe. Dort wird sie mit einem Mitarbeiter, nennen wir ihn Herr Müller, verbunden. Seine Auskünfte sind alles andere als klar. Unter anderem fragt er Frau Bürger mehrmals, ob sie „die Arbeit in der Wohnung des Arbeitgebers“ verrichten werde. „Gehen Sie zu dem Arbeitgeber in die Wohnung?“
Hier muss ich vorgreifen. Hinter der umständlichen Umschreibung „Arbeit in der Wohnung des Arbeitgebers“ verbirgt sich die Tätigkeit als Putzfrau. Das Wort „Putzfrau“ ist aber ein Tabu. In unserer Gesellschaft ist das Ansehen der Putzfrau das ziemlich niedrigste. In jedem hierarchischen System steht sie auf dem untersten Treppchen der Hackordnung. Ein Großteil der öffentlichen Meinungsmacher befindet jedoch, dass dem nicht so sein dürfe, und versucht, die öffentliche Meinung entsprechend zu konditionieren. Überhaupt zeigt der gegenwärtige Medienzeitgeist die Tendenz, unliebsame Gruppenbezeichnungen generell zu tabuisieren, umzubenennen, zu unterschlagen oder bis zur Unkenntlichkeit zu umschreiben. Bereits die Herausarbeitung spezifischer Merkmale einer Gruppe, und sei sie auch streng wissenschaftlich, gilt als dubios, denn von der Abgrenzung zur Ausgrenzung sei es nur ein kleiner Schritt. Das kommt jedem bekannt vor, der die aktuelle Ausgrenzungs- und Rassismus-Debatte mitbekommt.
Ein probates Mittel, ein Tabuwort zu ersetzen, ist die wertsteigernde Umbenennung. Ein Beispiel dafür ist die „Raumpflegerin“, die die „Putzfrau“ ersetzte. In dem Fall funktionierte das aber nicht lange, denn die negativen „Putzfrau“-Konnotationen übertrugen sich sofort auf die „Raumpflegerin“, von der jeder weiß, dass es sich dabei eben um eine „Putze“ handelt. Die abwertende Einstellung blieb also bestehen. Ein Tatbestand ändert sich eben nicht, indem man ihn umbenennt. Was also tun? Putzfrauen gibt es, und gerade im Bereich Minijob haben sie eine besondere arbeitsrechtliche Stellung im Vergleich zu anderen Minijobbern. Sie müssen also irgendwie benannt werden, ohne dass es ausgrenzend klingt. Das Tabu darf nicht gebrochen werden, sonst drohen Konsequenzen. Die Knappschaft hat dieses Problem folgendermaßen gelöst: Der Minijob ist entweder privat oder gewerblich. Putzfrauen heißen hier private Minijobber, alle anderen sind gewerbliche.
Zurück zu Herrn Müller von der Karlsruher Knappschaftsfiliale. Frau Bürger begreift den Sinn seiner Frage nicht. Die beiden wären vielleicht weiter gekommen, hätte Herr Müller gefragt: „Werden Sie bei Herrn Schulze als Putzfrau arbeiten?“ Aber das verbietet ihm das Tabu. Sie reden aneinander vorbei und Herr Müller empfiehlt Frau Bürger schließlich, bei der Knappschaftszentrale anzurufen und gibt ihr die Nummer, die sie sowieso schon hat.
Bei der Knappschaftszentrale antwortet weiterhin der Anrufbeantworter. Frau Bürger bleibt hartnäckig und ruft in der Filiale in Saarbrücken an. Eine nette Mitarbeiterin, nennen wir sie Frau Wolf, erwähnt zum ersten Mal gewerbliche und private Minijobber, geht aber nicht weiter darauf ein. Frau Bürger auch nicht. Sie will wissen, warum bei einer Rentnerin wieder Rentenbeiträge fällig werden. In unerwarteter Offenheit erklärt Frau Wolf „wegen der Gerechtigkeit“. Sonst würden die Arbeitgeber sich nur Rentner für ihre Minijobs „herauspicken“ – und das sei doch ungerecht gegenüber den anderen. Zu dem Krankenversicherungsbeitrag von 13 % des Monatsgehalts kann oder will sie sich nicht äußern und bietet wieder die Telefonnummer der Zentrale an.
Das alles ist Nahrung für Frau Bürgers (Vor)Urteil über die Kompetenz der deutschen Bürokratie. Am nächsten Morgen steht sie früh auf und wählt kurz nach sieben Uhr die Nummer der Knappschaftszentrale in Bochum. Sie wird sofort verbunden mit einer Mitarbeiterin, nennen wir sie Frau Behrendt, und diesmal erhält sie klare Auskunft. Die Beiträge sind voll zu entrichten, es sei, die Minijobberin ist privat krankenversichert, was im Fall Bürger nicht zutrifft. Nun erfährt Frau Bürger auch endlich, was es mit dem privaten (Putzfrau) und dem gewerblichen (alle anderen Tätigkeiten) Minijob auf sich hat. Die Beitragsstruktur der „gewerblich“ tätigen Mitarbeiter ist eine andere als die für Putzfrauen. Das Wort „Putzfrau“ nimmt Frau Behrendt natürlich nicht in den Mund. Immerhin beschreibt sie den Sachverhalt eindeutig und stellt somit Klarheit her.
Frau Bürger reitet aber weiter auf ihren offenen Fragen herum. Warum Rentenbeiträge, warum Krankenbeiträge für eine krankenversicherte Rentnerin? Weil, so die eloquente Frau Behrendt, diese Beiträge „nicht direkt“ als Kranken- und Rentenversicherung „gedacht sind“, sondern in andere Töpfe fließen. Frau Bürger stutzt. Dann fällt ihr ein, dass der Teil des Benzinpreises, der schönfärberisch Ökosteuer genannt wird, in Wirklichkeit in die Rentenkasse fließt und mit Umwelt und dergleichen nichts zu tun hat. Es scheint also nicht außergewöhnlich zu sein, räsonniert sie, Beiträgen und Steuern einen falschen Namen zu verpassen, um ihnen einen wertsteigernden Anstrich zu geben. Eine Diskussion darüber, in welche Töpfe die Knappschaftsgebühren fließen, wehrt Frau Behrendt kompetent ab. Es bleibt ungeklärt, welchen Tabu-Sachverhalt die Begriffe „Renten- und Krankenversicherung“ umschreiben. Frau Behrendt ist geschult darin, sich politisch korrekt zu verhalten und formuliert elegant.
Herr Schulze muss neben dem Gehalt also auch die kompletten Gebühren entrichten. Selbstverständlich kann er die Summe steuerlich absetzen. Seine Steuerschuld vermindert sich. Frau Bürger kann nicht beurteilen, ob sich unter diesen Umständen das Minijobangebot für Herrn Schulze lohnt, ob es eher ungünstig ist oder keinen Unterschied macht. Sie kann es sowieso nicht beeinflussen.
In der Meinung vieler Mainstream-Medien und Politiker gehört Frau Bürger zur Kategorie der „kleinen Leute“, was sie jedoch nicht daran hindert, sich garnicht so kleine Gedanken zu machen: Eine staatliche Institution, die Knappschaft, zieht eine Gebühr ein, die zwar einen Namen hat, deren Transparenz jedoch durch Tabus verschleiert wird und deren Verwendung im Dunkeln bleibt. Eine andere staatliche Institution, das Finanzamt, erstattet nach einem Jahr die Gebühr steuerlich teilweise zurück. Es handelt sich also um einen Geldbetrag, der zwangsweise eingezogen und ein Jahr ohne Verzinsung einbehalten wird, dabei mehrere Behörden durchläuft und von einer Reihe nicht schlecht besoldeter Beamter bearbeitet, verwaltet und verteilt wird. Zum Schluss schließt sich der Kreis, wenn der Beitrag mehr oder weniger gerupft an den ursprünglichen Beitragszahler zurückfließt.
Frau Bürger hat schon wieder Fragen. Ist das effizient? Warum muss man Irrwege gehen und darum kämpfen, auf eine eigentlich einfache Frage unbürokratisch eine klare Antwort zu bekommen? Warum wird man durch Beamte verwirrt, die in korrekter Befolgung von Tabus so eingeschnürt sind, dass sie abblocken oder verbal herumeiern? Ist das dem Vertrauen des Volkes in den Staat förderlich?
Im Laufe ihrer Ermittlungen machte Frau Bürger Erfahrungen, gewann Einsichten und bildete sich eine Meinung. Dann fand sie, es sei jetzt erstmal genug. Deshalb fuhr sie zur örtlichen Stadtbibliothek und lieh sich zwei Bücher aus: „Selbst denken“ von Harald Welzer und „Sapere aude“ von Heiner Geißler. Beide Autoren analysieren differenziert, kämpferisch und klar. Darüber freut sich Frau Bürger bei einer Tasse Tee.
Zum Weiterlesen:
Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand
* Selbst denken ist unbequem, aber unerlässlich, um im falschen System das Richtige zu tun … mehr
Heiner Geißler: Sapere aude! Warum wir eine neue Aufklärung brauchen
* Schon während seiner aktiven Berufszeit hat Heiner Geißler nie ein Blatt vor den politischen Mund genommen … mehr